Der 8. Juni 2009 könnte ein historisches Datum in der Geschichte der Schule werden. Jedenfalls wenn es nach Arnold Schwarzenegger geht. Kaliforniens Governor muss den Staatshaushalt retten und will dazu Schulbücher durch digitale Lernmaterialien ersetzten. Damit wird Schule billiger, einfacher, leichter, schneller, aktueller, ökologischer und bringt Spaß. Soweit die Theorie. Vielleicht bringt aber die Praxis die Pädagogik ganz anders in Bewegung, als es Schwarzenegger beabsichtigt.
In einer Schule am Rande von Los Angeles kündigte Arnold Schwarzenegger seine „first-in-the-nation digital textbook initiative“ an. Zu Schuljahrsbeginn im August 2009 sollen e-books die herkömmlichen Schulbücher aus Papier ablösen. Zunächst in den High Schools für die Bereiche Mathematik und Naturwissenschaften. Später sollen nach und nach alle anderen Bereiche abgedeckt werden. Da staunt der Pädagoge und der Informatiker wundert sich (und der Druckerverkäufer freut sich, aber dazu später mehr). Werfen wir anhand von Videomitschnitt und Transkript, fact-sheet und einem Gastbeitrag in der Mercury News einen kritischen Blick auf Schwarzeneggers Vorhaben Leading the Nation Into a Digital Textbook Future.
(Ausschnitt aus dem insg. 35-minütigen Video)
Übersicht: Die Argumente
Werfen wir einen Blick auf die viefältigen Argumente für die digitalen Schulbücher:
- Gesundheit: Schüler müssen keine schweren Bücher mehr tragen, sondern nur noch leichte USB-Sticks.
- Ordnung: Schüler bekommen das papierfreie Klassenzimmer.
- Technik: Schüler brauchen nicht unbedingt Rechner und Internet, um digitale Materialien zu bearbeiten.
- Umwelt: Papier wird gespart, Bäume werden gerettet.
- Finanzen: Der Staat spart viel Geld, das andersweitig besser verwendet werden kann.
- Pädagogik: Schüler können mit digitalen Materialien besser lernen.
Das Gewichtsargument: Leichtgewicht USB-Stick
Bei der Vorstellung von Schwarzeneggers Plänen lassen sich ganz spontan in der Nähe des Rednerpults einige ausgenommen große und schwere Lehrbücher finden, die dem Governor gereicht werden. Der zeigt sich daraufhin als Bodybuilder: Damit könne man ja Gewichtheben üben! Die Komik kippt spätestens danach ins unfreiwillig Lächerliche, als der Superintendent seinem Governor einen USB-Stick vorstellt.
Superintendent: „Governor, that’s a flash drive.“
Governor: „Exactly.“
Superintendent:
„All of that [schwere Bücher] can be on that [leichter USB-Stick], plus more.“
Governor: „That’s right.“
Zurück zum Argument: Dass kiloschwere Bücher oft zu schwer für Kinderrücken sind, ist nicht von der Hand zu weisen und beschäftigt seit Generationen Schüler und Eltern. Ein trifftiges Argument für die digitalen Materialien – zumindest solange anstelle der Bücher nicht ein 3,5 kg schweres Notebook (d)rückt.
Endlich Ordnung: Kommt das papierfreie Klassenzimmer?
Wenn man zur Zukunft des Buches den Medienwissenschaftler Norbert Bolz fragt, dann sagt der: „Ich sehe für das Buch keine Probleme – abgesehen von Lexika und Schulbüchern, die man digital effizienter, eleganter nutzen kann.“ Die Lexika haben wir geschafft, also gehen wir jetzt die Schulbücher an. Wenn das papierlose Büro eine Utopie bleibt, wie sieht es dann mit den papierlosen Klassenzimmern aus?
Schlecht, darf man vermuten. Es ist ja nicht so, dass Bücher nur zum Lesen genutzt werden. Im Gegenteil: Gerade eine moderne Pädagogik stellt Prinzipien wie konstruktive also tätige Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt, Zusammenarbeit und Eigenaktivität in den Mittelpunkt. Und dafür muss der Lernende schreiben, malen, kritzeln, korrigieren, protokollieren, mindmappen, notieren, kopieren, skizzieren, durchstreichen und vielleicht auch mal zerreißen können. (Und auch in der herkömmlichen Pädagogik ist das Schreiben noch wichtig, auch wenn es sich im schlimmsten Fall auf Abschreiben und Lücken-Ausfüllen beschränkt.) Findet die aktive Auseinandersetzung also nun auf dem Bildschirm statt? Nein, weiterhin auf Papier. Denn:
Die Technologiebarriere: Irgendwas fehlte …
Unvermeidlich stellt sich auch die Frage, ob denn erstens nicht jeder Schüler einen Computer / ein Lesegerät zunächst in der Schule, aber dann auch zu Hause braucht und zweitens wer dies bezahlt. Auch Schwarzenegger bekommt Nachfragen aus dem Publikum, ob denn allen Schülern Laptops gekauft und ob die Pädagogen vielleicht einschlägig weitergebildet werden müssten. Schwarzenegger befindet das für keine schlechte Idee, aber darum gehe es im Moment nicht:
„All of these things you are talking about shouldn’t really be an obstacle. All of these thing can be overcome.“
In der Praxis wird das Problem der fehlenden Lesegeräte die Idee der digitalen Materialien pervertieren. Sowohl in Kaliforniens Schule als auch in den Elternhäusern der Schüler sind Laptops noch lange nicht flächendeckend vorhanden. Das hat auch Schwarzenegger erkannt, aber ein Problem sei das deswegen noch lange nicht:
„… schools don’t really need to have computers and laptops. It is better when you have it, but if you don’t have it, you can print out this information and it still costs only a fraction of what textbooks cost.“
Auf Deutsch: Für die digitalen Schulbücher braucht es vor allem eines: Leistungsfähige Drucker und sehr, sehr viel Toner und Papier. (Und jetzt raten wir mal, in welchem US-Bundesstaat der weltgrößte Technologie-Konzern und Martkführer in Sachen Drucker seinen Sitz hat und seine Steuern zahlt …)
Green State California: Rettet die Bäume?
Nicht nur für ökologisch-motivierte Kalifornier stellt sich die Frage nach den ökologischen Folgen der Umstellung: Dem Verbrauch von Bäumen, Wasser und Energie steht v.a. der Stromverbrauch von Computern gegenüber. Das Lesen am Bildschirm schneidet da nicht gut ab. Anders verhält es sich beim Einsatz von E-Book-Readern mit niedrigem Stromverbrauch, so dass beim Einsatz von modernen Geräten wie dem kindle tatsächlich eine günstigere Ökobilanz zu erreichen wäre. Die Möglichkeitsform bleibt allerdings auch hier ein Konjunktiv irrealis, denn das tonnenweise Ausdrucken der Materialien führt auch diese Idee ad absurdum.
Die Kosteneinsparung: eine Milchmädchenrechnung?
Ob mit Schwarzeneggers Initiative wirklich Kosten einzusparen sind? Wohl kaum. Dem stehen zum einen die Kosten für das Ausdrucken gegenüber. Die Zahlen: Kalifornien hat 6,2 Mio. Schüler an staatlichen Schulen; das Haushaltsbudget für Bücher und andere Materialien beträgt jährlich 350 Mio. Dollar. Macht laut Taschenrechner gut 56 Dollar pro Kopf und Jahr. Das reicht nach Schwarzeneggers Rechnung übrigens für gut 1/2 Buch pro Schüler und Jahr. Denn Bücher für Algebra oder Chemie können teuer sein, das ist in Kalifornien nicht anders als im deutschsprachigen Raum. Die Summe von 350 Mio. Dollar umfasst übrigens die Kosten für Bücher „und weitere Materialien“ – die vermutlich nicht alle digital ersetzt werden können. Dazu braucht es neben den reinen Druckkosten auch weitere Geräte zum Umgang mit den Inhalten (und seien es nur leistungskräftige Drucker). Es braucht eine Infrastruktur zur Distribution. Es braucht (theoretisch-idealistisch) Weiterbildungsmaßnahmen für die digital immigrierenden Lehrer. Und schließlich: Wie wird eigentlich in Zukunft die Entwicklung der Lernmaterialien bezahlt? (Dazu unten mehr.) Da bleibt wenig von 56 Dollar.
Schwarzenegger argumentiert, dass von dem eingesparten Geld zusätzliche Lehrer eingestellt werden können. Das wäre schön. Aber es liegt die Vermutung nahe, dass die Mittel – sollten sie tatsächlich nicht alle in die Taschen der Drucker- und Tonerindustrie fliessen – gar nicht in den Schuletats verbleiben. Schließlich steht Schwarzeneggers Initiative unter den Vorzeichen des kalifornischen Haushaltslochs, dass es zu stopfen gilt.
Der pädagogische „Mehrwert“ [oder wie übersetzt man hier achievement?]
Immerhin weiß Schwarzenegger, dass es neben Technologie für eine erfolgreiche Pädagogik noch mehr braucht. Nämlich unter anderem: „the love and the care of the teachers“ (die er als Kind in Österreich erfahren durfte). Es gehe nicht nicht nur um eine technologische, sondern auch um eine pädagogische Weiterentwicklung:
„For so many years and decades we’ve been trying to teach the kids exactly the same way. We’ve got to update this.“
Zur konkreten Didaktik allerdings bleibt der Governor im Allgemeinen, ebenso wie die Redner nach ihm. Dabei geht es doch um eine „world-class education“ und dazu bedarf es etwas mehr als die vorgebrachten Argumente für alles Digitale.
Lebensweltorientierung
Vermutlich ist dieser soziologisch-pädagogische Terminus dem Terminator (uh, versteckter Kalauer – Entschuldigung!) nicht geläufig, aber er weiß um die Umstände:
„Kids, as you all know, today are very familiar with listening to their music digitally and online and to watch TV online, to watch movies online, to be on Twitter and participate in that and on Facebook and all of those kinds of things.“ … „there’s no reason why our schools should have our students lug around these antiquated and heavy and expensive textbooks …“
Kurz gesagt: Schulbücher sind altmodisch. Da könnte etwas dran sein, zumal in Verbindung mit dem nächsten Argument.
Aktualität
Textbücher werden laut Schwarzenegger alle 6 Jahre aktualisiert (was vermutlich schon ein guter Wert wäre – würden denn alle sechs Jahre die Bücher neu angeschafft werden). Das Argument ist also trifftig: Schüler werden mit entsprechend veraltetem Wissen gefüttert:
„… the information the schools feed them is stale and is outdated and is old.„
(Allerdings darf man hoffen, dass der deutlich größte Teil mathematischer Grund(er)kenntnisse recht konstant ist, und muss man fürchten, dass auch die Didaktik der Mathematik eher eine Tanker als ein Schnellboot ist.)
Multimedia + Interaktivität = Motivation
Vermutlich seit Erfindung des Wortes „Multimedia“ wird der Begriff von lerntheoretischen Ignoranten immer wieder untrennbar verklebt zusammen mit den Begriffen „Motivation!“ und „Interaktivität!“ angepriesen. Nach dieser 1980er-Jahre-Hoffnung gilt: Wenn’s bunt ist und sich bewegt und man dann noch etwas anklicken kann, dann passiert das Lernen quasi von ganz alleine, lässt sich gar nicht verhindern. Soweit die e-learning-Theorie 0.1 (beta). In die Reihe dieser konditionistischen Marktschreier fügt sich auch Schwarzenegger ein:
„And there will also be more opportunities for interactive learning and you know how exciting interactive action is. Students could read about a science experiment and then click onto a video and then see immediately a kind of demonstration of this science project. This is what kids love and it will make them much more excited about learning.„
So einfach ist das. Allerdings ist „interactive action“ für den Start der Initiative noch gar nicht vorgesehen und soll erst in einem späteren Stadium umgesetzt werden. Solange bleibt es wohl beim old-school passive consuming.
Zwischenfazit: Die pädagogische Revolution findet nicht statt.
Mit digitalen Werkzeugen lässt sich in Schulen vieles bewerkstelligen. Aber dafür braucht es mehr als eine pdf-Datei auf dem Laptop, das man von vorne nach hinten aufklappt, wo man vorher eben das Textbuch von rechts nach links aufgeklappt hat. Neben den Neuen Medien braucht es angesichts einer Neuen Welt auch ein Neues Lernen. Aber dazu herrscht in Kalifornien wie fast überall Schweigen im (geretteten) Walde.
Darf man das denn einfach alles kopieren? [nur scheinbar ein Exkurs]
Der urheberrechts-geschulte (und -geschädigte) Pädagoge wundert sich: Der Staatschef ruft zum beliebigen Vervielfältigen, zum Ausdrucken und Kopieren der Schulbücher auf? Und gemäß seinen Berechnungen ist das bisher für Schulbücher ausgegebene Geld theoretisch zu 100% einzusparen – also müssen keine Lizenzgebühren bezahlt werden? Die digitalen Materialien bestehen also aus Inhalten, die beliebig kopiert und verteilt werden können? Darf man sie vielleicht sogar verändern und dann weitergeben?
Schwarzenegger selber schweigt zu dieser Frage. Wir erfahren: Der Staat stellt eine „state-approved list of digital textbooks“ bereit. Es gibt also eine staatliche Institution, bei der Lehrbücher eingereicht und ausgewählt werden. Recherchen führen zum California Learning Resource Network – CLRN, bei dem die digitalen Materialien eingereicht und ausgewählt werden. Es wäre einen eigenen Artikel wert, das Verfahren und die Veröffentlichung dieser Institution zu untersuchen. An dieser Stelle soll aber ausreichen, dass man (nicht etwa auf der CLRN-Website, sondern) im Blog des CRLN-Chefs Brian Bridges erfährt, dass das Auswahlverfahren ca. Mitte August 2009 abgeschlossen sein soll und welche Bücher eingereicht wurden. Tatsächlich: Die Materialien stehen i.d.R. unter einer Creative Commons Lizenz, dürfen also nach Belieben vervielfältigt, verändert und weitergegeben werden.
Drei Fazite
Was bleibt I – Schub für die Medien-Debatte?
Bei aller Vorsicht und Kritik kann man den Plänen durchaus etwas Positives abgewinnen: Die Diskussion um den flächendeckenden Einsatz digitaler Medien in den Schulen kommt ernsthaft in Gang. Vielleicht wird man in 10 Jahren zurückblickend um das Jahr 2009 herum einige Bausteine sehen, die für den Diskurs um das „Lernen mit digitalen Werkzeugen“ eine katalysierende Wirkung hatten. Da waren die portugiesische und die venezuelanische Laptop-Initiativen, Schavans Vorstoß für ein Laptop pro Schüler, die Netbook-Aktion der Paderborner Uni, das Hamburger ePUSH-Projekt – und eben Schwarzeneggers Initiative zur Abschaffung der Lernmaterialien aus totem Holz.
Erste Ausstrahlungen sind schon zu erkennen: Die Wittener SPD hat sich in ihrem Programm zur Kommunalwahl 2009 (pdf, S. 17) offensichtlich die kalifornische Initiative zum Vorbild genommen und fordert, Schüler mit elektronischen Büchern (zunächst für die Naturwissenschaften und Mathematik) auszustatten. Diese sogenannte „Initiative ‚Witten.Lernen.21‘“ will zwar die Schule mit „hochwertigen und modernen Lernmitteln“ ausstatten. Die neuen Medien freilich gehen nicht mit einer neuen Pädagogik einher, denn erklärtes „Ziel ist es, in den nächsten Jahren die traditionellen Unterrichtsformen mit modernen Mitteln anzureichern.“
Bei aller Begrenztheit, Technikfixierung und pädagogischen Kurzsichtigkeit der einzelnen Aktion gilt es, diese Diskussionanlässe zu nutzen, um die wichtigen Fragen in den Vordergrund zu bringen: Wie sieht eine angemessene Pädagogik im 21. Jahrhundert aus? Wie sieht die technische Grundausstattung für Schüler aus, die vor der Einschulung schon SMS tippen, die nach der Schule in Online-Spielen kooperativ arbeiten und die via Internet problemlos alle Antworten finden, die die „Lehrmittel“ sie suchen lassen – ohne dass sie das alles von einem Pädagogen gelehrt wurden? Und wie sieht also ein sinnvolles Zusammengehen von Neuem Lernen und Neuen Medien aus?
Was bleibt II – Schulbücher mit Freien Inhalten / Open Content?
Was bisher in der Diskussion kaum vorkommt: Quasi als Trojanisches Pferd zieht mit Schwarzeneggers „Geschenk“ an die Kalifornier eine möglicherweise noch weiterreichende Revolution in die Schulen ein. Folgenreicher als die Frage „Papier oder Bildschirm“ kann die Frage nach dem Kopieren, Ausdrucken und Bearbeiten der Materialien sein. Schon heute werden in Schulen, zumindest in denen mit fortschrittlicher Pädagogik, die Materialien individuell zusammengestellt (und kopiert) anstatt dass man sich an einem Schulbuch(satz) entlang hangelt.
Für die Bewegung für freie Materialien (vgl. Wikibooks oder Open Educational Resources – OER) kann das einen enormen Aufschung bedeuten. Die Erstellung, Akzeptanz und Verbreitung solcher Inhalte, deren Lizenzen zum kostenfreien Vervielfältigen und Weiterbearbeiten einladen, spielen bisher eine marginale Rolle. Was auch an der Finanzierung liegt, denn die klassischen (Verlags-)Modelle funktionieren hier nicht mehr. Bisher ist die vorhandene Unterstützung durch Stiftungen, Spenden oder staatlichen Förderungen in den USA nur in sehr begrenztem und im deutschsprachigen Raum in verschwindend geringem Umfang vorhanden. Ändert sich das, wenn diese Materialien jetzt zum Standard werden?
Was bleibt III – A hole in the wall?
Die e-books in Kalifornien werden kommen, ob das im Sinne der Schüler und der Schule ist oder nicht. Wenn es schlecht läuft – und dafür spricht einiges – verschlechtert sich dadurch einfach die Ausstattung und der Unterricht noch ein Stück weiter. Aber vielleicht darf man darauf hoffen, dass vereinzelt die „Notmaßnahmen“ zu Keimzellen von innovativer Pädagogik werden. Vielleicht gibt es einige Pädagogen, die aus der Not eine Tugend machen, wenn sie (unfreiwillig) von den Fesseln der Schulbücher befreit werden. Sie könnten entdecken, dass es ein Leben neben dem Schulbuch gibt. Und das ist das tatsächliche Leben, mit dem es sich ganz gut lernen lässt. Digitale Medien (sofern sie nicht nur pdf-Dateien sondern interaktiv sind) können, wie Torsten Meyer sagt, ein „Hole in the Wall“ werden – ein Loch in der abgeschlossenen Schul(buch)welt. Durch dieses Loch kann ein Stück vom „Leben da draußen“ in die Schule eindringen und umgekehrt die Schüler nach außen mit dem „echten Leben“ zu tun bekommen.
PS
PS: Tochter N. sieht ein noch zu wenig diskutiertes Problem: „Ein Schulbuch kann man gut zerreißen, einen Computer nicht.“ (Allerdings geht Tochter N. auf eine sehr gute Schule: Sie hat in ihren ersten drei Schuljahren neben Lesebüchern noch nie ein klassisches Lehrbuch gesehen.)
PPS: Man kommt wohl nicht um das schöne Schwarzenegger-Zitat aus „Simpsons – The Movie“ herum: „I was elected to lead, not to read.“
Sehr guter ausführlicher Artikel, der das Vermittlungsproblem zwischen Medien und Pädagogik gut reflektiert. Ich hatte vor einigen Wochen getwittert. „Kaum verstehst du als Pädagoge etwas von Medien, wirst du zum Hausmeister degradiert“. Will sagen. Technik = Medien eine Didaktik hat da aber nichts zu suchen! Damit sind dir alle Vermittlungskompetenzen abgesprochen. Habe ich so bei diversen Tagungen erlebt. Schwarzenegger macht auch nichts anderes, als zwei Kompetenzen Medienkompetenz und Didaktik bloß nicht aufeinander zu beziehen. Dabei liegt es so nahe, dass wenn ich statt Hammer und Nagel eine Bohrmaschine nehme, sich auch die Methode ein Loch in die Wand zu bekommen grundlegend ändert. Es werden komplett andere Fertigkeiten verlangt und plötzlich kann man auch viel größere Löcher in die Wand machen, dazu hat man vorher wenn überhaupt viel Muskelkraft benötigt.
Ausgangspunkt der Initiative ist in der Tat das kalifornische Haushaltsloch, welches bereits zu einer Verfassungskrise und der Ausgabe von Schuldscheinen geführt hat. Meines Wissens hat Schwarzenegger seine Digital Textbooks Initiative zunächst am Ende einer Rede zu möglichen Notmaßnahmen vorgestellt, als eines der wenigen Beispiele „where we can save money and make things better“. Im Fact Sheet heißt es daher auch deutlich: „Proposal To Save Money And Stretch Resources During These Difficult Times“.
Daher steht für mich auch keine Reform von Pädagogik und (Medien-)Didaktik im Vordergrund, sondern in der Tat der Open Content Gedanke. Das größte Einsparpotenzial von Digital Textbooks liegt doch darin, die traditionellen Schulbuchverlage um ihre Gewinne zu bringen.
Deine Milchmädchenrechnung ist meiner Meinung nach falsch, da du nur die Kosten für den Staat Kalifornien, aber nicht jene der School Districts miteinbeziehst. Die abfälligen Kommentare zu Drucker und Toner sind geschenkt, hier geht’s doch um On-Demand Printing nur für jene Schüler die kein Lesegerät haben (entweder von den Eltern finanziert oder als Leihgabe der Schule). Das sollte in jedem Fall günstiger sein, als die Materialien von den Schulbuchverlagen zu beziehen.
In den Artikeln die ich hierzu hierzu las wurde deswegen ebenfalls der enorme Aufschwung für OER betont. Interessanterweise starteten in Kalifornien auch das Community College Consortium for OER (http://oerconsortium.org) und das Community College Open Textbook Project (http://collegeopentextbooks.ning.com)
Martha J. Kanter, Kanzlerin des Foothill-De Anza Community College die auch das OER Consortium initiiert hat, ist inzwischen übrigens U.S. Under-Secretary of Education. Und weil es so schön passt zuletzt noch ein Zitat aus Obamas Rede zum Start der ‚American Graduation Initiative‘:
„Even as we repair bricks and mortar, we have an opportunity to build a new virtual infrastructure to complement the education and training community colleges can offer. So we’re going to support the creation of a new online, open-source clearinghouse of courses so that community colleges across the country can offer more classes without building more classrooms.“
Vielen Dank für den Link zu Brian Bridges Blog!
Ja richtig, nicht nur Lesen, sondern auch Schreiben, Markieren, Kommentieren, Texte neu mixen, ergänzen und umformatieren … das alles ist nötig, um zu lernen. Das ist alles digital möglich (auch in kindl) während in Schulbüchern noch nie hineingeschrieben oder markiert werden durfte, von der Unmöglichkeit, Textteile umzustellen und neu zu gestalten mal ganz abegesehen. Und erst Recht mal ganz abgesehen von dem fundamentalen Unterschied zwischen linearem Buchtext und Hypertext. Eine Inititative, die die Schulbücher durch kindl-Lesegeräte und OLPC bzw. ein Handheld ersetzt, ist also auf jeden Fall zu begrüßen. Auch wenn es nur aus Geldspargründen geschieht: Letztendlich wird das Argument der Ökonomie sowieso das einzige sein, was noch hilft (it’s the economie, stupid!) – vorausgesetzt, es sind keine dummen kurzfristigen und im Endeffekt teuren Ersparnisse angestrebt, sondern langfristige gescheite Rechnungen: sinnvolle Investition in Bildung heute spart Gefängnisse und Sozialausgaben später.
Schwarzenegger will nichts weiter als seinen Arsch retten. Hier geht ews weder um Pädagogik noch um open source (was hier ja nicht Sozialisierung sondern Verstaatlichung der Schulbuchverlage bedeuten würde!) Und wieso soll ein Lesegerät mit den gleichen Inhalten wie die alten Schulbücher (dafür aber in Schwarz-Weiss) irgendetwas an der Bildung und Erziehung ändern? Hier werden allenfalls Bohrmschinen ohne Stromanschluss verkauft. Mag sein, dass hier ein Politiker aus reiner Not anspricht, was wünschenswert wäre, aber so ist das ein Diskussionsanstoß, der auf falsche Gleise führt. Unterricht ist auch nicht allein deswegen besser geworden, dass man aktuelle Arbeitsblätter statt eingefahrener Schulbücher benutzt hat.
Wem nutzt das? Es geht bei allem nicht um das Wohl der Kinder und Jugendlichen (finde ich nirgendwo) sondern um einen Staat, der pleite ist und Verschlechterungen auf Teufel komm raus irgendwie verkaufen muss. Medien bleiben Medien, Methoden bleiben Methoden und Inhalte bleiben Inhalte. Eine Diskussion um Vermittlung bleibt falsch, wenn ich nicht immer schon das „was“ mitdenke (das hat nichts mit im voraus Bestimmen zu tun, um das gleich auszuschließen): Was wollen wir den Kindern beibringen, was sollen sie lernen und wozu das alles? Danach müssen sich die Werkzeuge anbieten. Wenn ich dann hoffentlich der Meinung bin, dass die Kinder ein Recht auf individuelle Entwicklung haben, dass sie ihre Lernwege selbst bestimmen sollten, dass sie selbstbewußt mit sich selbst und respektvoll mit anderen umgehen sollten, dann gibt der Computer mit einem schellen Internetanschluss sicherlich eine Menge mehr Möglichkeiten, als die wir bislang hatten, Möglichkeiten, die wir nutzen sollten. (Aber dann bitte alle Schüler und nicht die Reicheren mit Computer und die anderen wie gehabt als Papierproletariat)
Umgekehrt wird kein Schuh daraus, Mit Freiarbeit und lustigen Lernzirkeln kann man auch Faschismus lehren. Und die Nazis haben jetzt auch ihr eigenes Facebook.
Sind denn die abstrahierten „Kompetenzen“ , die zu lernen ein neues Medium automatisch mitbringt, wirklich alles, was wir aus jahrtausendealter kultureller Entwicklung für tradierbar und zukunftsträchtig erachten?