Kulturelle Angebote haben derzeit Hochkonjunktur in den Schulen des Landes. Aber können die Angebote auch qualitativ überzeugen?Auf der dritten Veranstaltung der Reihe „Curriculum des Unwägbaren“ der Yehudi-Menuhin-Stiftung und der Stiftung Mercator am 10. Juni 2009 in Essen diskutierten Pädagogen und Künstler über das Einbinden der Künste in den Unterricht.
Autor: Ralf Augsburg
Datum: 16.06.2009
© www.ganztagsschulen.org
Fotos: © Martina Drignat
Der Veranstaltungsort hätte besser nicht gewählt sein können. Wie kaum ein anderer Ort in Deutschland steht das Gelände der Zeche Zollverein im Essener Norden für den Wandel einer Industriestruktur zur Industriekultur. Bis 1986 fanden hier noch Tausende Beschäftigung bei der Förderung von Kohle. Das Zechengelände wurde nach Ende der Förderung von der Stadt Essen gekauft, unter Denkmalschutz gestellt und 2002 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Inzwischen ist es ein Prestigeobjekt des Ruhrgebietes, das im kommenden Jahr der zentrale Veranstaltungsort sein wird, wenn Essen als Kulturhauptstadt Europas firmiert. Bereits heute ist die Zeche Zollverein ein Zentrum für Kultur und Kreativwirtschaft mit den Schwerpunkten Design und Architektur. Museen, Galerien, Werkstätten und Ausstellungsräume von Künstlerinnen und Künstlern sind hier beheimatet.
Der zentrale Veranstaltungsort des Fachkongresses „KinderKunstLernen“, der dritten und letzten Veranstaltung der Reihe „Curriculum des Unwägbaren“, war nochmals symbolträchtig: Im Großen Saal der Halle 12 auf Schacht XII waren früher die Kohlestücke vom Erdreich getrennt worden. Die Schätze aus dem Erdreich sind unwiederbringlich verloren. Heute muss es darum gehen, das kreative Potential – die geistigen Schätze – von Kindern und Jugendlichen zu aktivieren. Eine Möglichkeit dazu ist die Einbindung von Künstlerinnen und Künstlern in die Schulen.
Am 10. Juni 2009 fanden sind rund 250 Kunstschaffende, Pädagoginnen und Pädagogen, Kultur- und Bildungspolitiker sowie Vertreterinnen und Vertreter von Kulturinstitutionen zusammen, um auf Einladung der Yehudi-Menuhin-Stiftung und der Stiftung Mercator zu diskutieren, wie kulturelle Bildung beschaffen sein muss und welche Bedingungen sie benötigt, um Schülerinnen und Schüler zu bilden.
Deutsche Schulen haben aufgeholt
In den letzten Jahren ist bereits eine Menge erreicht worden. Prof. Dr. Oliver Scheytt, Geschäftsführer der RUHR.2010 GmbH, schwärmte in seiner Begrüßungsrede, dass „man vor zehn Jahren nicht zu träumen gewagt hätte, was heute alles an kultureller Bildung in den Schulen passiert“. Dies sei ein Aufholprozess gegenüber den europäischen Nachbarn: „Auf Kongressen habe ich vor zehn bis 15 Jahren immer gestaunt, wie viele Millionen die Briten und Franzosen damals schon für die Verankerung kultureller Angebote in den Schulen investiert haben“, erinnerte sich Scheytt. „Damals dachte ich, dass so etwas in Deutschland nie möglich sein würde.“ Dies habe sich glücklicherweise als Irrtum erwiesen, dennoch gebe es noch viel zu tun, um die kulturelle Bildung in den Schulen auszubauen: „Das ist eine Querschnittsaufgabe, die in das Zentrum von Bildungs-, Jugend- und Kulturpolitik gehört.“
Für Winfried Kneip, den Geschäftsführer der Yehudi-Menuhin-Stiftung, stehen aber auch die Schulen selbst in der Verantwortung, sich durch die Einbindung von Künstlerinnen und Künstlern zu verändern. „Es ist nicht mehr damit getan, mit den Kindern einen Museumsausflug zu machen“, so Kneip. Er sprach von noch bestehenden „Wahrnehmungsdefiziten“ bei Schulleitungen und Kollegien, die häufig unterschätzten, wie viel Kunst die Schule verträgt. Umgekehrt forderte der Geschäftsführer aber auch: „Wenn Kunst Schule dauerhaft mit gestalten will, führt kein Weg daran vorbei, miteinander über die Qualität der Arbeit von Künstlern in Schule und deren Wirkung auf Kinder und Jugendliche zu streiten. Künstlerische Angebote machen nur Sinn, wenn sie kontinuierlich stattfinden und von externen Moderatoren begleitet werden.“
Bei der Kooperation liegt noch immer einiges im Argen. Der an offenen Ganztagsschulen tätige Tanzpädagoge Robert Solomon wünschte sich ganz generell, dass Künstler und Lehrer „mehr ein Team bilden“ würden – in manchen Schulen ist der Kontakt zwischen den Lehrkräften und den außerschulischen Partnern offenbar weiterhin ausbaufähig. Aber auch die oftmals begrenzten Finanzmittel erschweren die Kooperation. So klagte zum Beispiel eine freischaffende Künstlerin, einen Teil ihrer für die Schülerinnen und Schüler eingesetzten Arbeitszeit müsse sie unentgeltlich leisten – die bezahlte Zeit decke Vor- und Nachbereitung nicht ab.
Lernen ohne Anstrengung und Zweck?
Was nun das Thema „Qualität“ künstlerischer Arbeit angeht, so wies Winfried Kneip selbst darauf hin, dass diese Definition schwierig ist: „Die Künste sind eher vage und unbestimmt, was die Suche nach einer gemeinsamen Syntax erschwert.“ In einem gemeinsamen Projekt mit der Robert-Bosch-Stiftung habe man in den vergangenen Jahren künstlerische Schulprofile darauf untersucht, wie weit sie zu schulischer Qualität allgemein beitragen würden. Dazu habe man den für Schulinspektionen maßgeblichen Qualitätsrahmen des Landes Nordrhein-Westfalen als Gradmesser zu Hilfe genommen. Das Ergebnis war ermutigend: Viele Bereiche des Qualitätsrahmens erfuhren durch den Einsatz der Künste eine Unterstützung. „Die Kunst muss sich der Bewertung der Schule selbstbewusst stellen“, meinte Kneip. Und gemessen an seinen Ausführungen kann sie das auch.
Aber wie bringt man die beiden Bereiche schulische Bildung und Kunst zueinander? „Lernen kostet Zeit und Anstrengung“, stellte Prof. Dr. Kersten Reich, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Köln, fest, während Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp, Erziehungswissenschaftlerin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, erklärte: „Kunst ist auch Muße. Für mich geht es bei der Kunst darum, dass man ohne Zweck lernt.“ Die Künstlerin Diemut Schilling stellte in Frage, dass es eine „zweckfreie Kunst“ gebe: „Künstler wollen etwas zur Aufführung bringen und auch mit ihrer Kunst Geld verdienen.“ Es gehe aber auch gar nicht so sehr darum. „Lernen können die Kinder – ich staune immer wieder, wenn sie die Yu-oh-gi-Karten bis ins letzte Detail auswendig kennen. Es geht vielmehr darum, das Interesse für andere Inhalte zu wecken.“
Wie das geschehen kann, konnten rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Workshop-Phase erfahren. Diemut Schilling leitete unter dem Titel „Rotkäppchens grüne Tasche: Über die Kunst des Eselbrückenbauens“ eine „rasante Querfeldeinfahrt durch die Vielfalt gestalterischer Mittel“: Ausgehend von einem selbstgestalteten Rorschach-Bild, das mit einem Auszug aus dem Märchen „Rotkäppchen“ kombiniert wurde, konnten die Teilnehmergruppen dichten, photographieren und Theater spielen, was schlussendlich auch gefilmt wurde. Die Richtung, in die sich das „Gesamtkunstwerk“ entwickelte, blieb der Intuition und der Gruppendynamik überlassen. Assoziationen und Verfremdungen sorgten für amüsante Resultate. Die Phantasie und die Motivation wurden durch eine Kette einfacher „Regieanweisungen“ angeregt, ohne dass ständig eine „Lehr- oder Aufsichtsperson“ über „Richtig oder falsch“ gewacht hätte.
Wiederkehr des ewig Gleichen oder Wandel in unendlichen Variationen?
„Lernen heißt erfinden“, hatte Prof. Dr. Peter Fauser vom Lehrstuhl für Schulpädagogik und Schulentwicklung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, in seinem Impulsreferat „Bildungskultur durch kulturelle Bildung“ diesen Prozess bereits vorweggenommen und ausgeführt, dass Lernen allgemein ein schöpferischer Prozess und damit den Künsten verwandt sei. Das Entscheidende im Lernprozess sei das Finden eines Lösungsweges, was durch die Vorstellungskraft maßgeblich unterstützt werde. „Es handelt sich um das Wechselspiel zwischen Erfahrung, Begreifen und Vorstellen“, so der Wissenschaftler. „Ohne Vorstellung geht nichts.“ Der Schulpädagoge Fauser forderte die Stärkung des Vorstellungsdenkens durch die Einbindung kultureller Bildung in den Schulen und durch Zeiten und Räume für die Erfahrung von Selbstvergessenheit. „In guten Schulen arbeiten Experten aller Sparten zusammen, und künstlerische Potentiale sind in jedem Fach eingearbeitet.“
Auch für Prof. Dr. Reich, Begründer des „Interaktionistischen Konstruktivismus“, ist das Lernen ein „künstlerischer Prozess“, der aber in Deutschland im Vergleich zum Ausland durch verschiedene Aspekte stark behindert werde: Die zu frühe Selektion der Schülerinnen und Schüler, die „hermetisch abgeriegelten“ Klassen, die Koppelung des Bildungserfolges an die soziale Herkunft und die Ausgrenzung von Kindern mit Behinderungen. Auch das Rituelle in deutschen Schulen – „da sind wir Weltmeister“ – mache „wahnsinnig viel kaputt“, so der Wissenschaftler.
Die Frage, ob „Lernen die Wiederkehr des ewig Gleichen oder ein Wandel in unendlichen Variationen“ ist, sei zweitrangig, wenn es nur gelinge, die Serialität des Unterrichts durch Gruppenarbeit, Einzelarbeit, Präsentationen und individuelle Förderung und das Verlassen der „60 qm-Lernbox Klassenzimmer“ aufzubrechen. „Lernen muss als Erfahrung und Experiment erlebbar werden. Schulen müssen Möglichkeiten zur Konzentration wie zur Kontemplation, zu Offenheit und Begegnung, zu Kommunikation und Präsentation, zu Intimität und Rückzug bieten“, erklärte Reich.
Der Lehrende wird zum Künstler
Besonders wichtig sei es, vom lehrerzentrierten Unterricht wegzukommen: „Je mehr der Lehrer im Vordergrund steht, desto mehr werden seine Verhaltensweisen beobachtet und er von den Schülern zur Karikatur abgestempelt“, meinte der Pädagogikprofessor. Stattdessen müsse er mehr wie in anderen Ländern zum Mentor der Schülerinnen und Schüler werden, der die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Lernweg unterstützt und begleitet. Der Lehrende werde zum Künstler, indem er als Konstrukteur mit Kursen, Materialien und Medien das Gesamtkunstwerk Unterricht zusammensetze, ohne zentriert zu steuern.
Wie wird sich die weitere Zusammenarbeit von Schulen und Kunst gestalten, welche Schritte sind notwendig? In der abschließenden Podiumsdiskussion malte Prof. Dr. Eckart Liebau von der Universität Erlangen das Bild von Schulen, die sich zu Kulturzentren weiter entwickeln. Diemut Schilling riet, dringend die Lehrerausbildung zu verändern. Für Kersten Reich sind es die Beispiele bereits erfolgreich mit kultureller Bildung arbeitender Schulen, die verbreitet werden sollten: „Wir brauchen Vorbilder.“