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Schule muss scheitern, wenn sie den Normalzustand simuliert

Im Ausnahmezustand soll die Schule möglichst viel Normalzustand bieten. Das kann nicht klappen, solange wir die Ziele und die Maßstäbe nicht verändern, die wir mit Schule verbinden. Schule hat vier gesellschaftliche Funktionen. Die Hälfte davon muss jetzt zurückstehen, damit nicht alles gleichermaßen an die Wand fährt. Das gilt sowohl für kleine Verschiebungen als auch für radikale Ansätze.

Grafik „four eyed monster“ by Vectors Market from the Noun Project, CC BY 3.0 US

Vier gesellschaftliche Funktionen von Schule

Man kann für Schule vier gesellschaftliche Funktionen anhand ihrer Ziele unterscheiden:

A. Betreuung und Wohlbefinden („die Kinder!“)

Erwachsene wollen oder können sich nicht in Vollzeit um ihre eigenen Kinder kümmern. Deswegen übergeben sie diese Aufgabe für bestimmte Zeiten an andere Erwachsene, die das professionell machen. Dabei ist zumindest ein Mindestmaß an Wohlbefinden für die Kinder erforderlich. Die Familien-Erwachsenen wollen, dass es den Kindern auch in den Zeiten gut geht, in denen sie von der Schule betreut werden.

B. Sozialisation und soziales Leben („das Leben!“)

In Schule erfahren junge Menschen durch Interaktion mit anderen jungen Menschen und mit Erwachsenen, wie es ist, ein Mensch in Gesellschaft zu sein. Es geht nicht um einen technischen Vorgang, bei dem z.B. Normen und Regeln übernommen werden, sondern auch um so etwas wie Leidenschaft, Anstrengung, Frustration, Freude, Liebe, Hass, Wahrnehmen von Verantwortung und Freiheit.

C. Bildungsziele und Curriculum („der Stoff!“)

Wir wollen, dass junge Menschen durch die Schule bestimmte Fähigkeiten entwickeln. Es geht um Kompetenzen, Wissen, Fertigkeiten, Einstellungen. Über diese Begriffe und die Konkretisierung in Form von Inhalten streiten wir viel. Aber es gibt einen gesellschaftlichen Konsens: Mit Schule können junge Menschen diese Fähigkeiten besser als ohne Schule entwickeln.

D. Bewertung und Selektion („die Abschlüsse!“)

Gesellschaft nutzt Schule, um Chancen und Zugänge zu verteilen. Dafür gibt es im Prozess so etwas wie Fördern & Fordern im Prozess und Prüfungen & Abschlüsse an den Enden. Die beiden letzten Dinge sind auf die Zukunft gerichtet: Über sie wird entschieden, wer in welche andere Stufe oder andere Schule fortschreiten darf und wer nicht, wer welche Ausbildung, welches Einkommen, welche gesellschaftlichen Positionen etc. verfolgen kann.

Was ist wichtig(er)?

Das Gleichgewicht aus diesen vier Zielen ist immer, auch jenseits von Krisen, Gegenstand von Diskussionen, ob im Klassenzimmer, auf Twitter oder im Parlament. Es gibt eine dynamische Balance, die stetig weiter verhandelt wird, innerhalb und außerhalb des Systems Schule.
Durch die Coronakrise ist das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Ziele von Schule aus dem Gleichgewicht gerutscht. Die Balance funktioniert nicht mehr. Wir sind gezwungen, das Verhältnis der Ziele von Schule neu zu priorisieren. Das machen wir, täglich, bewusst oder unbewusst, ob im Klassenzimmer, auf Twitter oder im Parlament.

Ohne klare Prioritäten bleibt alles gleich schlecht.

Meine Thesen:

  • Wir versuchen im Wesentlichen, auch in der Krise an allen vier Zielen gleichermaßen festzuhalten und den Status Quo zu bewahren. Deswegen scheitern wir auf allen vier Ebenen, zumindest solange wir die Vor-Krise-Maßstäbe anlegen.
  • Wenn wir das weiterhin so machen, dann müssen wir uns an neuen Maßstäben orientieren. Das machen wir ein Stück weit bereits, wenn z.B. das Betreuungsangebot eingeschränkt oder Prüfungen gestrichen werden.
  • Anstatt (nur) an einzelnen Stellschrauben zu drehen, sollten wir uns (auch) grundsätzlich über Prioritäten verständigen: Welche der vier Ziele ist uns wichtiger als die anderen? Welche Ziele wollen wir stärken, auch wenn es zu Lasten der anderen Ziele geht?

Mir persönlich sind in der Krisensituation die ersten beiden Ziele wichtiger als die anderen. Ich finde es bedeutsamer, ob es jemandem gut geht, als dass jemand bestimmtes Wissen nicht (bzw. nicht jetzt) erlernt oder bestimmte Prüfungen nicht (bzw. nicht jetzt) ablegen kann.

Begründung: Die ersten beiden Ziele sind unmittelbar wichtig, die weiteren sind mittelbar wichtig. In einer Krise (also einem zeitlich begrenzten Zustand) muss ich unterscheiden: Bei der Vernachlässigung der Ziele A und B richten wir unmittelbar Schaden an. Bei den Zielen C und D können wir mit Einschränkungen bei der Zielerreichung leben. Denn dort machen wir ohnehin immer schon viel mehr Kompromisse, als wir manchmal zugeben. Es ist ja nicht so, dass alle Schülerinnen alle Bildungsziele erreichen und alle Prüfungen bestehen. Hinzu kommt: Inhalte, Bewertungen und Abschlüssen kann man verschieben. Betreuung, Wohlergehen und Gemeinschaft lassen sich nicht nachholen.

Abwägungen oder radikale Lösung

Diese grundsätzlichen Überlegungen helfen mir als Orientierung sowohl für kleine wie auch für große Fragen. Sie gelten für die weitere Diskussion des Gleichgewichts, also das Verändern einzelner Stellschrauben. Und sie wären eine Hintergrundfolie für radikale Lösungen, zum Beispiel: Wir setzen für ein Jahr den Fokus auf Wohlsein, Gesundheit und ein gutes Miteinander. Auf der Ebene der Lernziele stellen wir für dieses Jahr Bewertungen und Prüfungen zurück, und inhaltlich fokussieren wir uns auf wesentliche Lernziele wie die Kompetenz zum selbständigen Lernen und die Arbeit in und mit digitalen Medien.

4 Gedanken zu „Schule muss scheitern, wenn sie den Normalzustand simuliert“

  1. „Auf der Ebene der Lernziele stellen wir für dieses Jahr Bewertungen und Prüfungen zurück, und inhaltlich fokussieren wir uns auf wesentliche Lernziele wie die Kompetenz zum selbständigen Lernen und die Arbeit in und mit digitalen Medien.“

    Warum nur „für dieses Jahr“? 😉

    Liebe Pferdekutscher, Ihr seht, so wie bisher geht es nicht weiter. Die alten Pferdewagen bleiben in den verregneten Lehmböden ständig stecken. Noch mehr Pferdewagen einsetzen, um die Waren von Liverpool nach Manchester zu bringen, hilft auch nicht weiter. Bleiben auch stecken. Es gibt da etwas Tolles, Neues. Eisenräde auf Eisenschienen. Wir müssen nur die Schienen verlegen – und Ihr müsst umschulen auf Lokführer. Das kriegt Ihr aber hin. Wir werden mehr Menschen für das neue System brauchen als alle Pferdekutscher zusammen. Lasst bitte Eure Pferdekutschen für ein Jahr stehen. 😉

  2. Ein äußerst intelligenter Text, der das Problem »Fernunterricht« / »Corona-Homeschooling« einmal aus einer ganz neuen Perspektive beleuchtet – nicht anhand der Frage, wie man Schule möglichst gut abbildet, sondern _was_ man eigentlich will.

    Ich stimme grundsätzlich völlig zu. Ich sehe zwei sehr schwierige Aspekte:
    (1)
    »Wir setzen für ein Jahr den Fokus auf Wohlsein, Gesundheit und ein gutes Miteinander. Auf der Ebene der Lernziele stellen wir für dieses Jahr Bewertungen und Prüfungen zurück«
    Wie machen wir das, wenn wir uns in digitaler Kommunikation befinden? Um »Wohlsein, Gesundheit und Miteinander« kümmern wir uns klassischerweise in echten Beziehungssituationen: Wir führen Gespräche, wir bauen Vertrauen auf, wir erleben uns als authentisch, wir hören uns zu usw. Schwierig per Mail, per Moodle. Klar kann man auch mal telefonieren. Schwierig bei vielen Schüler/innen.
    Letztlich besteht die Gefahr darin, dass gerade die, die »Wohlsein, Gesundheit und Miteinander« an meisten brauchen, als erste durchs digitale Netz fallen.

    (2)
    »inhaltlich fokussieren wir uns auf wesentliche Lernziele wie die Kompetenz zum selbständigen Lernen und die Arbeit in und mit digitalen Medien.«
    Wie machen wir das konkret in Fernsituationen?
    Die »guten« Schüler/innen (oft: mit engagiertem, evtl. akademischem, evtl. wohlhabendem Elternhaus) können das ja eh schon einigermaßen. Die erreichen wir auch mit entsprechender Anleitung.
    Die »schlechten« Schüler/innen (oft: … (s.o.)) können das nicht. Wie erreichen wir die? Das Schulsystem kämpft schon in Präsenzsituationen täglich darum, solche Schüler/innen zum selbstständigen Lernen anzuleiten – und scheitert oft. Und jetzt, in Distanzsituationen? KP.

    Doch wenn wir deiner Vision folgen, Jöran, dann bedeutet das: Wir müssen es _versuchen_. Und wir müssen uns klar sein, dass die latent dominanten schulischen Ziele »Fachkompetenz« und »Selektion« in der aktuellen Situation eine untergordnete Rolle spielen müssen. Das wird mir erst jetzt klar, wo ich diesen Text lese.

  3. Jöran Muuß-Merholz

    Vielen Dank für diesen Kommentar, sehr hilfreich zur Konkretisierung. Ich selbst bin ja an der Ebene Unterricht nicht dran, deswegen traue ich mir da weniger Kompetenz zu. Ich habe den Text übrigens gar nicht mit der expliziten Brille „Homeschooling“ geschrieben. Ich denke, dass in dieser Extremsituation viele Dinge stärker *sichtbar* werden, die aber auch sonst vorhanden sind.

  4. Sehe das genauso, Kinder brauchen soziale Kontakte in der Schule, dort fühlen sie sich durch Betreuung der Lehrkräfte gut aufgehoben.

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