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Fernsehen macht schlau! (Meet Steven Johnson)


Imagine: Menschen tun sich zusammen, um sich über ein großes Werk unserer Kultur auszutauschen, sagen wir mal: Goethes Faust. Jugendliche und Erwachsene arbeiten aus eigenem Antrieb und mit großem Engagement. Sie erstellen ausführliche Interpretationen und Analysen, diskutieren ihre Auffassungen und verhandeln unterschiedliche Standpunkte. Sie kollaborieren bei der Erstellung anspruchsvoller und umfassender Publikationen, produzieren ausführliche Texte, Radiosendungen, Videos und Websites. Ihre Zusammenarbeit überwindet geographische Grenzen und sprachliche Unterschiede. Ihre Ergebnisse werden alleine aufgrund des Inhalts beurteilt, unabhängig von Geschlecht, Alter oder akademischen Graden.

Bitte alle mal aufzeigen: Wessen Idealvorstellung von Lernen und Kultur kommt das nahe? Zumindest näher als alle Lernformen, die Sie im Zusammenhang mit Faust kennen?

Die gute Nachricht: Es gibt diese Menschen und deren Austausch. Die schlechte Nachricht (zumindest für die PädagogInnen unter uns): All das findet außerhalb der institutionellen Lernhäuser statt. Und um Faust geht es auch nicht.

Am 23.5.2010 strahlte der US-Sender ABC die letzte Folge der TV-Serie Lost aus. Deren großer Erfolg lehrt uns: Zuschauer mögen Unterhaltung anspruchsvoll, hochkomplex, intelligent und aktivierend. Oder ketzerisch formuliert: Lost schlägt Faust. Und zwar um Längen.

Lost vs. Faust

Lost ist so dermaßen komplex, dass manch Klassiker der Literatur daneben wie ein Kinderbuch wirkt. Ein Vergleich: Goethes Faust I bringt es auf  15 Protagonisten (wenn man den Pudel mitzählt, diverse Chöre, Spaziergänger und Hexentiere jedoch nicht). Lost zählt ungefähr 35 Hauptcharaktere, dazu kommen mind. noch einmal so viele Nebenrollen, die namentlich eingebunden und individuell relevant sind. Wirklich erschlagend wird der qualitative Vergleich: Wo die Komplexität von Faust aufhört, fängt Lost erst an. Ungezählte Orte werden eingeführt und mit Bedeutung gefüllt, Motive und geflügelte Worte etabliert und interpretiert, Handlungsstränge parallel entwickelt, miteinander verbunden und aufgespalten, ruhen gelassen und wieder aufgegriffen. Und schließlich, als wäre das alles noch nicht genug, potenziert man das Ganze: Handlungen und Akteure werden auf mehrere Zeitlinien verteilt, die sich kreuzen, verknoten und gegenseitig beeinflussen.

Lost-Autoren Carlton Cuse, Damon Lindelof

Und was ist mit der Sprache? Die ist bei Lost, zumindest auf den ersten Blick, einfach und unkompliziert. Genau wie bei Faust.

Jaaaaa …„, mahnt der studierte Germanist bedenkenschwanger, „alles schön und gut. Aber was ist mit dem I-n-h-a-l-t!?Faust behandelt schließlich die großen Themen des menschlichen Seins: Gut und böse, wahr und falsch, Leben und Tod, Liebe und Hass, Licht und Dunkelheit, Verantwortung und Freiheit, Schicksal und freier Wille. Um die Antwort ganz kurz zu machen: Lost auch.

Rezeption

Da wo Faust einige Jahrhundert Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte brauchte, konnte Lost dank massenmedialer Verbreitung und Internet eine rasante und demokratische Diskussion entfachen. Auf diversen Websites finden sich ungezählte Blogbeiträge und Podcasts, ausführliche Aufsätze mit Theorien über Lost, Zusammenfassungen und  Interpretationen, Zusammenstellungen von Handlungen, Orten, Akteuren und Zitaten, Zeitlinien und Ortspläne, grafische Strukturierungen und nicht zuletzt: jede Menge Meinungen und Diskussionen.

Um die Serie herum entstande v.a. im Internet ungezählte Begleitmedien, und zwar jenseits der etablierten Fankult- und Merchandisingspähren. Websites wie DarkUfo oder die Lostpedia haben Hunderttausende von Lesern. Und Tausende von Autoren! Die Lostpedia hat zum Beispiel, wie eine themenspezifische Wikipedia, in kollaborativer Autorenschaft mehrere Tausend enzyklopädische Einträge zur Serie erarbeitet. Neben der großen englischsprachigen Version gibt es Ausgaben in weiteren Sprachen (Chinesisch, Dänisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Japanisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch).

Was lernen wir dabei?

Für Ergebnisse wie die Lostpedia braucht es Kompetenzen wie kritische Medienwahrnehmung und -aneignung, aktives und selbstbestimmtes Lernen, Interpretation, Zusammenarbeit, Aushandlung, Beherrschung der eigenen und häufig einer andere Sprache (englisch!), Kreativität, logisches und analytisches Denken. Kompetenzen, die neben den Bildungsstandards der KMK aussehen wie finnische neben mexikanischen Schulen.

Möglicherweise verrät uns die Lostpedia mehr über unsere Vorstellungen von Schule und Lernen als über Lost.

Das Fernsehen wird immer besser …

Lost ist der bisherige Höhepunkt an Komplexität, den das Fernsehen (oder sogar allgemein die Massenmedien?) zu bieten haben. Lost ist ein Meilenstein, aber keine Ausnahme. Fragen Sie mal einen 15-jährigen, wieviele Charaktere er auf diesem Bild erkennt. Geben Sie mal den Inhalt einer durchschnittlichen Folge 24 wieder, wenn Ihr Zuhörer die Serie und ihre Protagonisten nicht kennt.

Kein Zuschauer aus den 1970er Jahren hätte überhaupt die kognitiven Routinen, um aktuelle Fernsehserien verfolgen zu können. (Zumindest diese Art von) Fernsehen macht seine Zuschauer nicht dümmer – im Gegenteil.

Steven Berlin Johnson

And now for something completly different – oder auch nicht.

Steven Johnson ist ein Lieblingsautor von Jöran, was die Beschreibung des shifts angeht, der mit neuen Technologien, Medien und Innovation unsere Gesellschaft transformiert. 2005 formulierte er  die These: Fernsehen und Computerspiele sorgen nicht für die Verblödung ihrer Rezipienten, sondern für einen Anstieg der Intelligenz.

Hier ein Überblick über die Arbeiten des Autors, der in Deutschland so gut wie unbekannt ist, international aber mit 1,5 Mio. mehr Follower auf Twitter hat als z.B. Popsängerin Pink. (Was wiederum mehr über Deutschland als über Mr. Johnson sagt.)

Wir beginnen mit seiner Homepage www.stevenberlinjohnson.com,  wo Johnson seit 2002 bloggt. Johnson veröffentlicht hier nicht unbedingt viel, aber gut. Möglicherweise hat er sich zunehmend aufs Twittern verlegt.

Everything bad is good for you. How Popular Culture Is Making Us Smarter

Dieses Buch erschien 2005 (amazon (Partner-Link), wikipedia). Als Johnsons (fast) einziger Titel wurde es auch ins Deutsche übersetzt: Die neue Intelligenz: Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden (amazon).

Johnsons These: Popkultur und Massenmedien, insbesondere Fernsehen und Videospiele machen nicht etwa dumm, sondern im Gegenteil schlauer. Die Grundstruktur von Fernsehserien wie 24 oder Spielen wie World of Warcraft ist so komplex, dass sie vor 30 Jahren das Publikum überfordert hätte.

Wer es lieber kürzer als in Buchform mag, lese Johnsons Artikel in der New York Times 2005: Watching TV Makes You Smarter.

Oder als Vortragsvideo bei der Handheld Learning Conference 2008 (40 min.):

Hier Jörans Lieblingspassage read by the author: Was wäre, wenn es zuerst Computerspiele gegeben hätte, und später hätte jemand das Medium „Buch“ erfunden?

Weitere Bücher von Steven Johnson

Johnson hat weitere Arbeiten an den Schnittstellen von Innovation, Technologie und Intelligenz veröffentlicht:


7 Gedanken zu „Fernsehen macht schlau! (Meet Steven Johnson)“

  1. Um kritischen Lesern die Arbeit zu ersparen, schreibe ich die erste Replik gleich selber. Was nicht bremensen, sondern zum Diskutieren anregen soll.
    Der Vergleich Lost vs. Faust ist nicht legitim, selbstverständlich.
    Äpfel mit Birnen, natürlich.
    Alles zu stark vereinfacht, klar.
    Die Medien nicht gegeneinander ausspielen, allerdings.
    Deutsch vs. USA, wieso?
    Anspruch vs. Unterhaltung – eben nicht!

  2. Was ich noch gar nicht erwähnte, was bei Steven Johnson aber eine Rolle spielt: Computerspiele. Auch hier gilt: Komplexität und Anspruch wachsen tendenziell eher als dass die Spiele dümmer werden. (Na gut, bei Smartphone-Spielen vermutlich nicht. Oder doch?)

  3. sorry, ich kann hier auch nicht diskutieren. erstens, weil ich Lost nicht gesehen habe, nur immer davon gehört. und zweitens, weil ich ganz großer Steven B. Johnson-fan bin. lieblingsbücher: emergence und interface culture, aber auch die historischen bücher (invention of air!) finde ich als kulturwissenschaftler großartig.

    was ich mir wünschen würde: ein deutschsprachiger diskurs auf diesem niveau, wie er im angelsächsischen raum auch nicht gerade überall, aber eben doch sehr viel breiter und besser existiert als hier.

  4. Spiegel Online schreibt dazu:
    „Wohl keine Fernsehserie in der Geschichte hat so viel Fankultur inspiriert, von der unfassbar detaillierten „Lostpedia“ bis hin zu zahllosen Fanseiten und endlosen Forumsdiskussionen über kleinste Details. „Lost“ ist die erste Web-2.0-Serie, obwohl das womöglich gar nicht beabsichtigt war. Vielleicht sehen so Fernsehformate der Zukunft aus: einen möglichst komplexen Andeutungs- und Anspielungsraum schaffen und dann das Publikum für seine eigene Unterhaltung sorgen lassen.“
    http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,696584,00.html

  5. weil Lesen eine andere kognitive Leistung ist als die Rezeption von Film.
    Und genau da wird es interessant, weiterzumachen. Wenn wir uns alle einig sind, dass wir das Fernsehen nicht verteufeln wollen und aufhören, die einzelnen Medien zu werten statt mal genauer hinzugucken, dann beginnen die wirklich spannenden Fragen: Was macht das Computerspielen, Fernsehen usw. mit uns? Dass sich die Mediennutzung in den letzten Jahren so sehr verändert hat, muss sich doch auswirken, oder? Die Frage ist: Wie? (Außer dass wir schlauer werden, s.o.).

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