Teil II einer Fortsetzungsgeschichte aus dem Jahr 2041 von Jöran Muuß-Merholz
Ortswechsel: Um 16.00 Uhr verlässt Elias, der Sohn von Lea Müller, die Schule. Das Gebäude der Angela-Merkel-Schule sieht noch aus wie vor 250 Jahren, als sie unter dem Namen Christianeum gegründet worden war. Aber im Inneren ist vieles kaum wiederzuerkennen. Im Rahmen von Sanierungsarbeiten wurden immer drei Klassenräume zu einem großen Bereich zusammengelegt. Nach der Abschaffung der Klassenstruktur Mitte der 20er-Jahre war das überall dort umgesetzt worden, wo der Denkmalschutz nicht wichtiger als die pädagogischen Überlegungen waren. Die Räume wirken heute mit Tischinseln und Einzelplätzen, Grünpflanzen und Teeküchen, Sofaecken und Regalen eher wie Großraumbüros. „Großlernbüros“ könnte man sagen. Andere Räume erinnern eher an eine Mischung aus Marktplatz und Forum. Hier gibt es eine kleine Bühne und Sitzgelegenheiten für gut 100 Personen.
In der Organisation der Schulen hat sich das Prinzip der „Sub Schools“ (auch „Schulen in der Schule“ genannt) durchgesetzt. Das Konzept war zunächst nur in Neubauten für möglich gehalten worden, hatte sich dann aber schnell ausgebreitet: Schulen mit 500, 1000 oder gar 2000 Schülern wurden in organisatorische Einheiten von ca. 140 Schülern aufgeteilt. Diese „Sub Schools“ haben ein festes Team aus Pädagogen, Psychologen und einer Leitung. Wenn ein Schüler nicht umzieht, bleibt er häufig von der Vorschule bis zum Schulabschluss in derselben „Sub School“. Es gibt immer noch Verbände von ca. 25 Schülern als Stammgruppen mit festen Mentoren aus dem pädagogischen Team. Während die gesamte „Sub School“ jahrgangsübergreifend arbeitet, sind die Schüler einer Stammgruppe ungefähr im gleichen Alter. Die Bedeutung dieser Gruppen wird vor allem auf sozialer und organisatorischer Ebene gesehen. Für das Lernen sind andere Größenordnungen wichtig: Zum einen wird viel individuell und in kleinen Projektgruppen erarbeitet. Zum anderen finden wöchentlich Präsentationen, Aufführungen und Feste mit der gesamten Sub School statt. Zweimal im Jahr kommen alle Schulen für große Feiern und andere Events zusammen.
Digitale Programme und pädagogische Neuausrichtung
Digitale Inhalte und Werkzeuge haben zu einem Quantensprung im individualisierten Lernen geführt. Früher sollte der Lehrer eine Schulklasse im Gleichschritt zum Lernziel führen. 25 Schüler arbeiteten zur selben Zeit mit denselben Methoden am selben Thema und sollten die gleichen Ziele erreichen. Anfang des 21. Jahrhunderts war versucht worden, eine Individualisierung durch unterschiedliche Niveaus innerhalb einer Klasse zu ermöglichen. Erziehungswissenschaftler hatten das Vorgehen „Arbeitsblatt-Pädagogik“ genannt, weil die Lehrer meist mit Stapeln verschiedener Arbeitsblätter mit unterschiedlichen Themen, Niveaus und Methoden in den Klassenraum kamen. Der Durchbruch in Sachen Individualisierung kam schließlich, als die Digitalisierung auch in die Klassenräume Einzug hielt. Es dauerte noch eine Weile, bis Pädagogen und Informatiker in der Entwicklung der Software zusammenarbeiteten. Aber das Ergebnis ist beeindruckend: Digitale Lernprogramme können heute nicht nur zwischen drei oder vier Niveaus differenzieren, sondern passen sich tatsächlich an die individuellen Bedürfnisse jedes Lernenden an. Die Datenbanken hinter den Programmen können aus einem Fundus verschiedenster Erklärvideos und interaktiver Übungen schöpfen. Ständig analysieren sie das Verhalten des Lernenden und bieten ihm unterschiedliche Wege zum Ziel an. Dabei lernen nicht nur die Schüler, sondern auch die Programme selbst. Durch die Auswertung der Benutzerdaten von Hunderttausenden Schülern pro Jahr erkennen sie, wo ihr Angebot häufig zu Problemen, Fehlern und Verzögerungen führt und können es ständig verbessern. Schüler und Lehrer profitieren gleichermaßen von der digitalen Lehre, denn die Schüler bekommen unmittelbar Feedback zu ihren Aktivitäten – eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen. Nebenbei gewinnen die Lehrkräfte Zeit für die Beratung der Lernenden, weil stundenlange Korrekturen und Nachbesprechungen wegfallen.
In der Euphorie um das digitale Lernen war Ende der 20er-Jahre sogar diskutiert worden, ob man die Schulpflicht nicht zu einer Lernpflicht umwandeln sollte. Schließlich konnten die Schüler auch zu Hause oder von jedem anderen Ort mit Internetzugang aus an ihren Lernprogrammen üben. Entsprechende Versuche brachten aber nur das zu Tage, was fortgeschrittene Schulen schon seit langem wussten: Inhalte, die über Erklärungen und Übungen zu erlernen sind, machen nur die eine Hälfte dessen aus, was Menschen in Schulen lernen. Weitergehende Kompetenzen, Kreativität, kritisches Denken, Kollaboration oder Kommunikation („die 5 Ks“) sind mindestens genauso wichtig – mit immer noch steigender Tendenz. Vor diesem Hintergrund wird in Schulen heute ein Schwerpunkt auf „die 4 Ps“ gelegt: Lernen in komplexen Projekten, an authentischen Problemen, ausgerichtet auf konkrete Produkte, dokumentiert im individuellen Portfolio. In dieser „Pädagogik der 4 Ps für 5 Ks“ stehen nun statt abfragbarem Wissen tatsächliche Kompetenzen im Vordergrund. Hier wird schnell deutlich, dass Lernen auch direkte Begegnung braucht, bei der digitale Medien nur unterstützende Funktionen haben.
Die Schulpflicht ist nicht aufgehoben worden. In den ersten Schuljahren beginnt die Anwesenheitspflicht (früher hätte man es wohl „Unterricht“ genannt) nach wie vor um 8.00 Uhr – auch wenn es regelmäßige Initiativen von Eltern gibt, den Schulanfang nach hinten zu verlegen. Es hat sich herausgestellt, dass Rituale und Gemeinsamkeit in der Schulgemeinschaft wichtiger werden, wenn das Lernen individueller wird. Für die Jüngeren beginnt der Tag daher mit einem Treffen in der Stammgruppe, in der auch zusammen mittaggegessen und um 15.30 Uhr ein Abschluss mit kurzen Präsentationen und Besprechungen begangen wird. Bei den älteren Schülern gibt es einen gleitenden Einstieg zwischen 8.00 und 10.00 Uhr.
Manche Schüler kommen sogar schon vor 8.00 Uhr. Das ist kein Problem, denn das Schulgebäude ist von 6.00 bis 24.00 Uhr geöffnet. Zwischen 8.00 und 16.00 Uhr gehört die Schule zwar exklusiv den Schülern. Davor und danach ist sie aber offen für Initiativen aus dem Stadtteil, zum Beispiel für Sport- und Interessensgruppen. Viele Schulen sind in den 20er- und 30er-Jahren zu sogenannten „Lernzentren“ für den Stadtteil umgebaut worden. Die sinkenden Schülerzahlen und der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschulen ermöglichten einen großen Umbau, der heute selbstverständlich erscheint. Und so findet man in der Angela-Merkel-Schule am späten Nachmittag eine Badminton-Gruppe mit älteren Bürgern in der Halle, eine jugendliche Football-Mannschaft auf dem Sportplatz, Lerngruppen für Portugiesisch, Nähen und Kalligraphie, eine politische Initiative gegen Fluglärm, ein Treffen von Tierschützern, eine Meditationsgruppe und einen Vortrag zum Thema „Haben Roboter Rechte?“.
Apropos Vortragsveranstaltung: Eine bemerkenswerte Entwicklung in der Umstellung der Pädagogik wurde erst im Nachhinein erkennbar. Nachdem der Frontalunterricht abgeschafft war, hat das Format „Vortrag“ eine neue Wertschätzung gewonnen. Ein klar strukturierter, gut vorgetragener Input zu einem interessanten Thema wird in Schulen häufig als Highlight im wöchentlichen Plenum wahrgenommen, vielleicht nicht obwohl, sondern gerade weil inzwischen zu allen denkbaren Themen Vortragsvideos im Netz zu finden sind.
Dies war Teil II von fünf Teilen. In Teil III geht es um die Neugestaltung Volkshochschulen als Community Learning Center und acht Thesen zu erweiterte Lernwelten, von Kaffee bis Zertifikaten.
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