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Wie lernen wir (über-)morgen? Die Volkshochschule wurde zum „Community Learning Center“

Teil III einer Fortsetzungsgeschichte aus dem Jahr 2041 von Jöran Muuß-Merholz

Vordenken (Buchcover)
„Wie lernen wir (über-)morgen? Ein Ausblick auf die Bildung der Zukunft“ von Jöran Muuß-Merholz ist erstmalig 2016 in dem Buch „VORDENKEN“ erschienen. Die gebundene Ausgabe umfasst 183 Seiten und zwölf Autoren. Das Buch wurde von Müller – Die lila Logistik AG herausgegeben und ist über die ISBN 978-3000533136 z.B. bei amazon erhältlich. Dies ist Teil III einer fünfteiligen Fortsetzungsgeschichte: Teil I | Teil II | Teil III | Teil IV | Teil V | komplett als PDF

Während sich Lea Müller und ihr Sohn Elias am frühen Abend zu Hause treffen, ist Vater Janosch Müller bei der Arbeit. Wenn viele andere Menschen Feierabend haben, beginnt für ihn die wichtigste Zeit. Janosch Müller arbeitet als Lernberater im „Community Learning Center“. Diese kommunal verankerten Orte des lebenslangen Lernens sind aus den Volkshochschulen hervorgegangen. Häufig sind sie räumlich mit Schulen oder Hochschulen verbunden, da die Grenzen zwischen den Bildungsbereichen immer fließender werden.

Die Volkshochschulen standen um 2020 vielerorts vor dem Aus. Viele sahen durch die Lernangebote im Internet ihre Existenzberechtigung infrage gestellt. Zu so gut wie jedem Thema fand man im Internet Materialien, Erklärvideos, Online-Kurse und selbstorganisierte Communities. Facebook und Ebay hatten 2019 eine gemeinsame Plattform gestartet, auf der Lernende ihre Interessen vorstellten und Lehrende ihre Dienste zu allen denkbaren Bereichen anboten. Seitdem lassen sich zum Beispiel muttersprachliche Partner für Sprachtandems kinderleicht finden. Diese treffen sich wöchentlich für Gespräche mittels Video-, inzwischen häufig auch über Holo-Konferenzen. Viele Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt über digitale Nachhilfe. Sie lehren und beraten Lernende in kleinen Gruppen online. Da der geographische Standort der Lernenden keine Rolle mehr spielt, können die Gruppen passgenau zusammengesetzt werden, je nach individuellem Vorwissen, den Vorlieben bei Lernstil und Tempo oder auch schlicht nach der bevorzugten Tages- und Uhrzeit für die Online-Treffen. Seit Videoübertragungen ohne spürbare Zeitverzögerung funktionieren, lernen viele Menschen nicht nur ihr Musikinstrument mit einem Online-Dozenten, sondern spielen gleich in weltweit verteilten Bands oder Orchestern gemeinsam – einfach von zu Hause aus.

Für Bildungseinrichtungen wie die Volkshochschulen sah es eine Weile so aus, als würden sie nicht mehr gebraucht werden. Erst allmählich lernte die Gesellschaft, dass die Bildungshäuser eine ganz andere Funktion erfüllten, als man rational angenommen hatte. Die Volkshochschulen hatten zuerst damit reagiert, selbst Online-Angebote zu machen. Der Erfolg war überschaubar. Es gab einfach schon so viele gute und günstige Angebote im Netz, dass die Volkshochschulen dort schlicht nicht gebraucht wurden. Auf dem Kongress „Erweiterte Lernwelten“ des Bundesverbandes der Volkshochschulen 2022 wurden dann die „Neun Thesen zum lebensbegleitend lernenden Menschen“ beschlossen. Viele kritisierten das Papier zunächst als banal. Aber grundlegende Dinge klingen oft banal, und letztlich gab der Erfolg den Volkshochschulen Recht. Ihr Ansatz wurde in der Folge von anderen Bildungseinrichtungen aufgegriffen und führte zu einer Renaissance von Lernorten, an denen sich Menschen vor Ort treffen können.

Die Thesen sind im Folgenden dokumentiert und hinsichtlich ihrer Auswirkung kommentiert.

1. Menschen mögen schöne Räume. Und guten Kaffee.
Wir können im digitalen Zeitalter zwar immer und überall arbeiten und lernen. Wir wollen aber gerne an schönen, bequemen und einladenden Orten arbeiten und lernen.

Einige Volkshochschulen erzielten große Erfolge, indem sie ihren Cafébereich erweiterten und darauf auslegten, dass Menschen sich dort auch über Stunden hinweg aufhalten und sowohl nebeneinander als auch miteinander lernen konnten. Verschiedene Sitzgelegenheiten, angenehmes Licht und eine ruhige Akustik, Zugang zu Strom und WLAN und auch guter Kaffee gehörten dazu. Außerdem wurde den Menschen immer vermittelt, dass sie willkommen waren und nicht, dass man nach dem Leeren der Kaffeetasse erwartete, dass sie demnächst gehen würden. In der konkreten Gestaltung solcher „Lern-Cafés“ ließ man sich von Coffeeshopketten inspirieren.

2. Menschen mögen Begegnungen im echten Leben –  jenseits von Bildschirmen.
Lange hat man geglaubt, dass die „Digital Natives“ sich gar nicht mehr „in echt“ treffen wollen. Das war ein Irrtum.

Ausgangspunkt des Umdenkens in dieser Frage war eine Doktorarbeit des Informatikers und Medienbildners Matthias Andrasch aus dem Jahr 2020. Seine Ergebnisse wurden von mehreren Medien aufgegriffen und in die Breite getragen. Andrasch hatte verschiedene Veranstaltungen untersucht, auf denen sich diejenigen trafen, die als besonders netzaffin galten: Programmierer und Nerds, Netznomaden und Hacker. Er fand heraus, dass sie eigene Formen von Treffen er- und gefunden hatten, beispielsweise „Barcamp“ genannte Unkonferenzen, spontane „MeetUps“ zu festgelegten Themen, „Hackathons“ zum gezielten Arbeiten an einem Projekt. Beim jährlichen Treffen des Chaos Computer Clubs kamen jedes Jahr 10.000 Menschen zusammen. Und für die alltägliche Arbeit sprossen allerorts „Co-Working-Spaces“ aus dem Boden. Diese kollektiven Großraumbüros dienten der Vernetzung, aber auch schlicht der Selbstdisziplinierung. Die Volkshochschulen schufen entsprechende „Co-Learning-Spaces“ (siehe These 1). Außerdem begannen sie damit, ihre Veranstaltungsräume verstärkt für Lernangebote zur Verfügung zu stellen, die sie gar nicht selbst initiiert hatten.

3. Menschen mögen Orientierung und Beratung.
Gerade weil Lernangebote jetzt in unglaublichem Umfang zur Verfügung stehen, braucht es viel mehr Sortieren, Einordnen, Führen, Beraten, Begleiten, Überblick, Coaching.

Die Bildungsberatung war schon immer ein wichtiger Teil der Arbeit regionaler Bildungsanbieter gewesen. Nach 2022 wurde dieser Bereich systematisch ausgebaut. Lernende fanden in den Volkshochschulen – online und vor Ort – individuelle Unterstützungsangebote auf drei Ebenen:
a. Persönliche Bildungsberatung – mit dem Fokus „WIE lerne ich am besten …?“;
b. Regionale Bildungsberatung – mit dem Fokus „WO lerne ich am besten …?“ und
c. fachliche Bildungsberatung – mit dem Fokus „WAS lerne ich am besten …?“
Die entsprechenden Angebote wurden innerhalb weniger Jahre zentrale Wegweiser für Erwachsene, die selbstgesteuert und zielgerichtet lernen wollten.

4. Menschen mögen Unterstützung und Betreuung.
Vom selbstständigen Lernen sollen nicht nur diejenigen profitieren, die ohnehin schon privilegiert sind. Wir müssen gezielt die Menschen unterstützen, die die neuen Möglichkeiten noch nicht wahrnehmen.

Die grenzenlosen Möglichkeiten des Lernens im digitalen Zeitalter waren von Anfang an auch als Chance für Menschen gesehen worden, die bisher weniger Zugang zu Bildungsgelegenheiten hatten. Die UNESCO engagierte sich unter dem Schlagwort „Bildung für alle“ – auch ein alter Slogan der Volkshochschulen. Es zeigte sich jedoch ein „Matthäus-Effekt“: Wer hat, dem wird gegeben. Von den neuen Möglichkeiten profitierten überproportional diejenigen, die ohnehin schon gut selbstständig lernen und sich in neuen Umgebungen zurechtfinden konnten. Die Volkshochschulen starteten daraufhin verstärkt Unterstützungsangebote. Diese zielten darauf ab, die Kompetenzen für das selbständige Lernen, für den Umgang mit digitalen Medien, für die Orientierung im digitalen Raum zu fördern. Außerdem wurden lokale Treffen für große Online-Angebote initiiert. Im Jahr 2024 hatte „3D-Druck-Werkstatt für Dummies“, der (bis dahin) größte Online-Kurs im deutschsprachigen Raum, über 330.000 Teilnehmende. An 280 VHS-Standorten bildeten sich regionale Lerngruppen – ohne dass die Teilnahme daran von den Kursmachern vorgeschrieben gewesen wäre.

5. Menschen mögen gemeinsame Unternehmungen.
Wir müssen anerkennen, dass Antriebskraft bzw. Ausgangsfrage für die Teilnahme an unseren Angeboten gar nicht die Entscheidung „Ich will etwas Bestimmtes lernen!“ ist, sondern die Frage „Was mache ich denn dieses Jahr mal bei der VHS?“.

Lange Zeit war die Motivation der Menschen, die die Angebote der Volkshochschulen nutzen, von den Anbietern rational eingeschätzt worden. Ausschlagend sei das thematische Angebot – alles andere wäre nettes Beiwerk. Langsam setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass häufig gerade das Beiwerk wichtig und die Teilnahme als Selbstzweck vielen Menschen wertvoll ist. Gerade weil mit dem Internet ein Lernen unabhängig von Raum und Zeit möglich ist, müssen sich die Lernenden nun ihre Routinen und Strukturen selbst schaffen. Es ist wie bei manchen Joggern, die sich mit anderen zu Laufgruppen zusammentun – nicht obwohl, sondern weil sie durch die Verabredung an feste Zeiten und Orte gebunden sind.

6. Menschen mögen es, Dinge selber zu machen.
Neue Entwicklungen wie 3D-Drucker, Mini-Computer, günstige Foto-/Videotechnik oder die Do-it-yourself-(DIY-)Bewegung führen zu einer Renaissance des Selbermachens. Wir können Anleitung und Orte dafür bieten.

Oft war er belächelt worden: der Töpferkurs, einer der Klassiker unter den VHS-Angeboten. Doch ab 2018 wurde das handwerkliche Machen wieder zu einem Schwerpunkt der VHS-Programme. Kurioserweise hat gerade der virtuelle Raum des World Wide Webs zu einem Wiedererstarken des Selbermachens und Gestaltenwollens geführt. Ob es um 3D-Drucker oder Smartphone-Videos geht, um Rezepte für Bier oder Kaffee, um Handarbeit mit Elektrobauteilen oder Wolle – das Netz bringt Menschen dazu, Dinge im Wortsinn selbst in die Hand nehmen zu wollen. Das Internet liefert Anleitungen, Tipps und Tricks, Bestellmöglichkeiten für notwendige Materialien und Foren für den Austausch. Erst wurden in den Städten „MakerSpaces“ eröffnet, in denen man sich austauschen und ausprobieren kann. Zunehmend waren und sind es die Volkshochschulen, die solche Angebote machen.

7. Menschen mögen ihre lokale Umgebung.
Wir als Volkshochschulen haben einen enormen Vorzug: Häuser. Wir sind in der Nähe der Menschen. Diesen Vorteil müssen wir ausnutzen, indem wir uns mit dem beschäftigen, was Menschen an diesen Orten beschäftigt.

Gerade diese These klang für viele Funktionäre zunächst banal – entfaltete aber große Wirkung. Wenn im digitalen Raum alles gleich nah bzw. gleich weit entfernt ist, dann gewinnt die Nachbarschaft an Bedeutung. Volkshochschulen machten in der Folge vermehrt Angebote zu Orten und Aktivitäten in ihren Städten und Stadtteilen. Zusammen mit einer verstärkten Ausrichtung als „Community Center“ sind die Bildungshäuser zunehmend Orte des Politischen geworden, an denen es um die Gestaltung der unmittelbaren Lebensumgebung geht.

8. Menschen mögen Zertifikate.
Die große Vielfalt von Bildungsmöglichkeiten erhöht die Unübersichtlichkeit für Lernende, Bildungsanbieter, Arbeitgeber und andere. Die „Marke VHS“ bietet Orientierung und Vertrauen.

Viel mehr Lerngelegenheiten als früher finden heute in informalen Kontexten statt. Dennoch braucht es immer noch Zeugnisse und Zertifikate. Die Volkshochschulen sorgten mit einer Zertifizierung von Lernergebnissen – nicht nur für die eigenen Angebote – für Überblick. Jede größere VHS bietet heute die Möglichkeiten, Prüfungen und Leistungsnachweise in verschiedenen Bereichen abzulegen und sich entsprechende Leistungen und Kompetenzen bescheinigen zu lassen.

In der Diskussion über die Thesen beim Kongress „Erweiterte Lernwelten“ 2022 hatten viele Redner aktuelle Trends in der Bildungswelt grundsätzlich kritisiert, gerade wenn sie mit der Digitalisierung zusammenhingen. Die Mehrheitsmeinung setze sich aber durch: Die Welt ändert sich rasant. Wir können das nicht aufhalten. Wir können es entweder mitgestalten – oder zugucken.


 

Dies war Teil III von fünf Teilen. In Teil IV lernen wir die Duale Langzeit-Ausbildung+ (DuaLA+) zur Neuro-Controllerin und Peer To Peer Lern-Netzwerke kennen.


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