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Wie lernen wir (über-)morgen? Ein Ausblick auf die Bildung der Zukunft

Teil I einer Fortsetzungsgeschichte aus dem Jahr 2041 von Jöran Muuß-Merholz

Vordenken (Buchcover)
„Wie lernen wir (über-)morgen? Ein Ausblick auf die Bildung der Zukunft“ von Jöran Muuß-Merholz ist erstmalig 2016 in dem Buch „VORDENKEN“ erschienen. Die gebundene Ausgabe umfasst 183 Seiten und zwölf Autoren. Das Buch wurde von Müller – Die lila Logistik AG herausgegeben und ist über die ISBN 978-3000533136 z.B. bei amazon erhältlich. Dies ist Teil I einer fünfteiligen Fortsetzungsgeschichte: Teil I | Teil II | Teil III | Teil IV | Teil V | komplett als PDF

15.30 Uhr zeigt die Wanduhr, darunter das Datum: 5. März 2041. Mit Blick auf die Uhr packt Lea Müller Thermoskanne und Computer zusammen und verlässt den Lernraum, um in ihr Büro ein Stockwerk tiefer zurückzukehren. Heute Nachmittag steht noch das wöchentliche Teamtreffen aller Mitarbeiter am Standort im Kalender. Lea Müller arbeitet bei Baltic Information Connection (BIC). Die Firma war 2016 als Start-up von drei Schülern in Kiel gegründet worden. Damals gelangten die Perspektiven von Big Data und Industrie 4.0 in Deutschland ganz oben auf die Tagesordnung. Die ursprüngliche Dienstleistung von BIC bestand darin, persönliche Empfehlungen für sportliche Aktivitäten und die Bildung lokaler Trainingsgruppen miteinander zu verbinden. Mittlerweile sind die Empfehlungen des Dienstes sehr genau, weil Nutzer ihr Bewegungs- und Ernährungsverhalten automatisch erfassen lassen und zur Analyse zur Verfügung stellen. Das Unternehmen hat heute, im Jahr 2041, Niederlassungen in vier Ländern und 330 Mitarbeiter.

Im Lernraum

Lea Müller hatte sich für zwei Stunden in den Lernraum zurückgezogen, um sich in ihre Lernmaterialien zu vertiefen. Im Sommer wird sie für drei Monate zur Niederlassung in Armenien wechseln, um mit den IT-Kollegen vor Ort neue Routinen und Standards für die Zusammenarbeit mit den anderen BIC-Standorten zu entwickeln. Zur Vorbereitung auf diese Zeit eignet sich Lea Müller die neueren Modelle zur Kommunikation in global verteilten Teams an. Auch technische und interkulturelle Fragen stehen auf ihrem persönlichen Stundenplan, den sie gemeinsam mit ihrem Projektleiter und dem Lerncoach aus dem Personalmanagement entwickelt hat. Zur Umsetzung ihrer Lernvorhaben geht sie nun dreimal in der Woche für je zwei Stunden in den Lernraum, wo sie konzentriert und ohne Ablenkung an ihren Materialien arbeiten kann.

Ein solcher Lernraum ist zum Standard in Unternehmen geworden. Die Versprechungen, die mit dem Einzug digitaler Medien in die Lernwelten gemacht worden sind, haben sich erst im zweiten Anlauf erfüllt. Als Lea Müller 2016 ihre Ausbildung (ein duales Studium) begann, waren die Verheißungen groß gewesen: Digitale Inhalte seien über das Internet jederzeit und überall verfügbar, so dass Lernen auch immer und allerorts möglich wäre. „Lernen-on-demand“ und „Training-on-the-job“ waren die Schlagworte. Die Unternehmen fanden das großartig, weil die neuen Konzepte enorme Kosteneinsparungen und hohe Flexibilität versprachen. In der Praxis zeigte sich dann, dass man einen grundlegenden Widerspruch übersehen hatte: den Unterschied zwischen dringenden und wichtigen Aufgaben. Selbstverständlich waren sich alle einig, dass die Fortbildung der Mitarbeiter zu den wichtigsten Aufgaben gehörte, wenn ein Unternehmen in der sich rasant wandelnden Gesellschaft bestehen wollte. Im Arbeitsalltag gab es jedoch immer Aufgaben, die dringender waren als die nächsten Lerneinheiten. Gerade weil das Lernen prinzipiell immer und überall stattfinden konnte, fand es in vielen Fällen nie statt. Es hatte keinen festen Platz im Arbeitsalltag. Selbst wenn man sich wöchentlich nur eine oder zwei Stunden dem e-Learning-Programm widmen sollte, kam meist etwas dazwischen – sei es eine eilige Aufgabe oder der Kollege, der genau zu dieser Zeit nach einer kurzen Besprechung fragte, weil er sonst nicht weiterkam. Es zeigte sich, dass die Fortbildung ebenso wie der Erfahrungsaustausch untereinander festgelegte Räume und Zeiten brauchte, um regelmäßig stattzufinden. Unternehmen experimentierten zunächst mit festen Zeiten, zu denen Telefone, E-Mails, Messenger und Besprechungen Pause hatten. Mancherorts reichte das, aber vielfach ließen sich Zeitfestlegungen für alle nicht mit den individuellen Lern- und Arbeitssettings verbinden. Und so schuf man die Lernräume. Sie etablierten sich als eine Fusion aus Coffeeshop und Bibliothek. Von der Bibliothek übernahm man die ruhige Grundstimmung, in bestimmten Bereichen das Flüstergebot und sogar Bücherregale, die den Raum unterteilten und für eine passende Lernumgebung sorgten. Dazu wurden Elemente aus Coffeeshops übernommen, nachdem man beobachtet hatte, dass sich immer mehr Menschen zum Lernen dahin zurückzogen. Über Befragungen wurde ermittelt, was die Menschen dort schätzten: unterschiedliche Sitzgelegenheiten von Einzelplätzen mit Hockern über Sessel oder Sofas mit kleinen Tischen bis zu größeren Tischen für Gruppen. Auch die entspannte Atmosphäre, ein zuverlässiger, ungefilterter Internetzugang und nicht zuletzt guter Kaffee trugen dazu bei, dass viele Menschen Coffeeshops als perfekte Lernorte empfanden. Außerdem stellte sich heraus, dass für viele Mitarbeiter schlicht der Ortswechsel entscheidend war. Gerade weil Arbeit und Lernen im Alltag immer stärker miteinander verwoben wurden, war ihnen eine klare Aufteilung wichtig: Am Schreibtisch waren sie im Arbeitsmodus, für den Lernmodus wechselten sie in den Lernraum.

Heute in 2041 herrschen klare Verabredungen um den Lernraum herum. „Solange die Firma nicht in Flammen steht, wird niemand aus dem Lernraum geholt!“ Mildere Richtlinien hatten sich häufig nicht bewährt. Als sehr hilfreich haben sich neue Funktionen der Computer erwiesen – egal ob es um Smartphones, Tablets oder altmodische Geräte mit Tastatur geht. Die „Nicht Stören“-Funktion sorgt dafür, dass Lernende das Gerät in vollem Umfang nutzen können, aber keine Benachrichtigungen und keine Meldungen ihrer intelligenten Assistenzprogramme bekommen, es sei denn, sie fragen diese aktiv an.

Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass weniger die harten als vielmehr die weichen Faktoren entscheidend für die Fortbildung sind. Die Verbindung von Lernen und Arbeiten funktioniert nur, wenn es eine entsprechende Unternehmenskultur gibt. Was noch vor wenigen Jahren undenkbar war, ist heute gang und gäbe: Es gilt als Tabu, jemanden wegen akuter Dringlichkeiten der Arbeit nach Einschränkungen seiner Lernzeiten zu fragen.

Der Lerncoach

Auch 2041 gibt es noch Hierarchien in Unternehmen. Was die Fortbildung angeht, hat sich aber ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mitarbeitern und ihren Vorgesetzten etabliert. Gemeinsam werden in den jährlichen großen und den quartalsmäßigen Zielvereinbarungsgesprächen die Fortbildungsansprüche und -interessen ausgelotet. Die Arbeitsteilung ist dabei klar: Der Mitarbeiter ist für die eigenen Aktivitäten zur Fortbildung verantwortlich (wer auch sonst?), während der Vorgesetzte die notwendigen Voraussetzungen schaffen muss. In der Regel sitzt bei diesen Gesprächen auch ein Coach vom Personalmanagement am Tisch, der beide Seiten berät und aus den Ergebnissen entsprechende Fortbildungspläne entwirft. Das Besondere: Der Coach ist beiden Seiten gleichermaßen verpflichtet und sieht sich als Dienstleister, nicht als Auftraggeber für sie.

Der Lerncoach aus dem Personalmanagement begleitet alle Mitarbeiter auf ihren persönlichen Fortbildungswegen. Mindestens ein Zwischengespräch pro Woche gilt als Standard. Lerncoaches helfen als individuelle Prozessbegleiter und moderieren den Austausch in den „Communities of Practice“, bei denen sich Menschen mit ähnlichen Fragen- und Aufgabenstellungen untereinander austauschen. Bei manchen Lernfeldern können Coaches nach Verabredung die Lernfortschritte kontrollieren. Denn auch 2041 funktioniert Lernen nicht immer aus rein intrinsischer Motivation. In wissensintensiven Unternehmen (also so gut wie überall) kommt ein Lerncoach auf 20 Mitarbeiter.


 

Dies war Teil I von fünf Teilen. In Teil II geht es um die Neugestaltung von Schulen, Großlernbüros und die Euphorie um das digitale Lernen.


2 Gedanken zu „Wie lernen wir (über-)morgen? Ein Ausblick auf die Bildung der Zukunft“

  1. Vielleicht liegt in fiktionaler Literatur deine Zukunft, lieber Jöran, denn das ist spannend zu lesen. Und vieles könnte so eintreten, wie du es dir vorstellst.
    Nur der Lernbegriff nun wieder (du weißt ja, ich bin seit Geburt drauf abonniert, auf ihm rumzureiten.) Klar, muss man zum expliziten systematischen Lernen (d.h. zum Lesen – falls es um Wissenschaft geht, oder zum Trainieren, falls es um Sport geht, oder zum Probieren, falls es um die Künste geht … ) den passenden Raum – der übrigens gegenstandsbezogen jeweils ganz anders aussieht! – und die Zeit dafür haben. „Lernen unterwegs, oder Lernen mit mobiles ist auch auf bestimmte Lerngegenstände begrenzt. Lernen unterwegs ist besonders gut für ein Lauftraining geeignet. Das geht gar nicht gut in einem Raum immer nur aufm Laufband. Lernen mit mobiles und unterwegs hat seine Begrenzung, wenn dabei ausgiebig geschrieben und gezeichnet werden muss wie beim kognitiven Lernen. Dafür sitzt man besser am Tisch und hat einen Computer mit am liebsten zwei riesigen Monitoren.
    Aber es gibt ja eben noch ein anderes Lernen, nämlich das, was mit der Arbeit verschmilzt (learning on the job, kollaboratives Lernen, Lernen durch Austausch von Erfahrungen …) und was ja gerade im 21st ctry wieder neu entdeckt wurde. In deiner Geschichte setzt du „Lernen“ aber wieder mit der einen und einzigen Lernform gleich, die Lernen in der Buchgesellschaft als einziges als Lernen anerkennt. 🙁 Das ist ein bisschen irreführend. Jarche nennt diese Form des systematischen expliziten kognitiven individuellen Lernens übrigens Personal Knowledge Mastery. Und er gibt ihr einen systemischen Platz innerhalb der verschiedenen benötigten Lernformen – die schon heute gebraucht werden und stattfinden, erst Recht in 2041:
    http://jarche.com/2017/01/the-learning-loop/
    ich glaub nicht, dass du dir vorstellst, dass man mit dem, was man 2041 unter Lernen versteht, wieder ausschließlich zurückkehrt zum individuellen einsamen „Buchlernen“?

  2. Und was ich neben der etwas mechanischen Vorstellung von „jetzt ist Lernen“ vs. „jetzt ist Arbeit“ noch interessant zu diskutieren finde: Der Lerncoach. ich denke nicht, dass jemand Anwalt beider Konfliktparteien sein kann (und ob man „Mitarbeiter“ oder „Manager“ in einem Betrieb ist, ist immer konfliktuös, es sei denn, wir wären raus aus dem herrschenden Betriebs-System). Und dann: Wer ist der Lerncoach, dass er überprüfen darf und könnte, ob ich meine Lernziele erreicht habe? öhm.
    Ist es wirklich eine Zukunftsvorstellung, dass sich Erwachsene nicht nur mit ihrer Arbeits- sondern nun auch mit einer sogenannten „Lernleistung“ in ZLVs verpflichten lassen müssen? Auweia. Ichenichte. Der in die Arbeitswelt verlängerte Schülerstatus. Wollten wir den Schüler, der von der Autorität kontrolliert wird, nicht schon grad in der Schule „abschaffen“ bzw. zum Menschen be- mündigen? Und dann führen wir ihn auf der betrieblichen Ebene wieder ein? 2041? Zum Glück bin ich da schon tot. An meinem Arbeitsplatz heute jedenfalls ist die Perfomanz the proof of the pudding und nicht, wie und wann und unter welchen ZLVs und wessen controlling ich die LLL-Grundlagen dafür erworben habe.
    Dass ich aber ein gerüttelt Maß an Arbeitszeit für mein LLL bezahlt bekomme, das weit über die paar Stunden, die der Lehrer heute z.B. für Jahresfortbildung bekommt (in HH 30 Jahresstunden) oder der ganz normale Arbeitnehmer als Bildungsurlaub (30 Jahresstunden bzw. eine 5-Tage-Woche), wäre grandios.

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