von Jöran Muuß-Merholz für die Fachtagung digi@school – Schule im digitalen Wandel (März 2023)
Als unsere Gesellschaft die Institution „Schule“ erfunden hat, ging es um Stabilität. In der Schule sollte das an die nächste Generation weitergegeben werden, was sich in den bisherigen Generationen bewährt hat. Bis heute ist Schule dadurch geprägt, dass wir sie nicht für Wandel, sondern für Stabilität erfunden haben: Stabilität bei den Lerninhalten und Bildungszielen. Stabilität bei den Formen des Lernens und Lehrens. Und Stabilität in der Organisation und der Professionalität ihrer Mitglieder.
Heute befindet sich unsere Gesellschaft in der Krise. Krise – nicht mehr wie früher als eine Ausnahme vom Normalzustand, sondern als neuer Dauerzustand. Damit sind hohe Ansprüche an Veränderungen und damit an die Dynamik unserer Institutionen verbunden.
Schule wurde nicht für Wandel erfunden
Eine gewisse Stabilität ist zwar ebenfalls eine notwendige Voraussetzung bei der Bewältigung von Krisen. Aber das Spannungsfeld aus Beständigkeit und Dynamik ist heute nicht im notwendigen Gleichgewicht. Der Institution Schule steht ihre Stabilität für die eigene Veränderung im Wege. Wir haben gesellschaftlich noch kein gemeinsames Bild von ihrem Auftrag in der Gegenwart. Und: Das Bildungssystem kennt auf allen Ebenen kaum Wege, wie sein eigener Wandel gestaltet werden kann. Schule wurde nicht für Wandel erfunden. Wenn die Schule die anstehenden Herausforderungen bewältigen will, muss sie sich gleichzeitig neu erfinden.
Zu den vielen Herausforderungen, von denen die Gesellschaft von der Schule fordert, dass sie sie bewältigen möge, seien an dieser Stelle nur einige Schlagworte genannt: Inklusion. Digitalisierung. Geflüchtete. Didaktik. Unterrichtssicherheit. Demokratie. Rollenwandel. Lehrkräftemangel. Klimakrise. Gerechtigkeit. Und das sind nur die Dinge, die wir heute schon kennen. Wenn Schule nun gleichzeitig zu ihrem regulären Betrieb herausfinden muss, wie sie ihren eigenen Wandel gestaltet, sprechen wir von einem ganzen Konglomerat von Herausforderungen, die die Welt ihr stellt, und Herausforderungen, die sie sich selbst stellt. Quasi eine Mega-Herausforderung. Gleichzeitig liegt hier wohl die größte Möglichkeit der Schulgeschichte, dass die Akteure „ihre“ Schule so gestalten, wie sie es für erstrebenswert halten.
Zu diesem Umbruch gehören zahlreiche Voraussetzungen, die wir teilweise erst neu schaffen müssen. Eine zentrale Herausforderung und gleichzeitig ein Patentrezept lautet: Zusammenarbeit. Die Akteure in Schulen müssen es schaffen, viel mehr Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zu etablieren. Professionelle Zusammenarbeit muss in der Schule von der Ausnahme zur Regel werden. Das ist alles andere als einfach – denn die DNA unserer Schule ist von individueller Arbeit geprägt. Zusammenarbeit findet eher trotz und nicht wegen der Strukturierung des Arbeitsalltags statt.
Die Revolution ist schon da.
Hier kommt die gute Nachricht: Die Revolution ist schon da. Im Schatten der großen Herausforderungen der letzten Jahre, insbesondere zu Inklusion, Digitalisierung und Corona, hat sich eine Entwicklung fortgesetzt, die auch für weitere Herausforderungen essentiell ist: Die Akteure in der Praxis haben den Wandel in die eigenen Hände genommen. An vielen Orten wurde beispielsweise das Thema Fortbildung auf den Kopf bzw. auf die Füße gestellt. Man wartet nicht mehr, bis die richtige Fortbildung vom Himmel fällt. Kollegien bilden sich gegenseitig fort. Sie versenden im Kollegium eigene Newsletter, veranstalten Barcamps und andere Formen des Peer-to-Peer-Lernens – also des Lernens voneinander und miteinander. Immer mehr Lehrkräfte überwinden die Grenzen ihrer Schule und entwickeln eine öffentliche Kultur des Teilens. Sie teilen eigene Materialien als Open Educational Resources (OER) und eigene Erfahrungen über Blogs und Social Media. Das mag bisher noch klein, vereinzelt und unauffällig wirken. Trotzdem hat es das Zeug zur Revolution, weil es Zusammenarbeit als Standard setzt. Auch auf anderen Ebenen wie Team-Teaching, multiprofessionelle Zusammenarbeit, Ausdifferenzierung von Funktionen und Rollen sowie vielen anderen Bereichen macht das Thema Zusammenarbeit schnell Fortschritte. Und die braucht es dringend.
Für die Gestaltung von Wandel in Schulen müssen sich viele Dinge ändern. Eine der Grundvoraussetzungen besteht darin, dass wir Zusammenarbeit nicht mehr als Ausnahme, sondern als Standard des Arbeitens etablieren. Denn keine der anstehenden Herausforderungen und Krisen, geschweige denn alle gleichzeitig, können wir erfolgreich bearbeiten, wenn alle alles alleine tun.
Dieser Text von Jöran Muuß-Merholz erschien erstmals im Programmheft zur Fachtagung digi@school – Schule im digitalen Wandel (März 2023) veröffentlicht.Hiermit wird er unter der Lizenz CC BY 4.0 freigegeben.