Essay von Jöran Muuß-Merholz (2019)*
Die Begriffe „Lernen“ und „Lehren“ sind zentral für pädagogische Theorie und Praxis. Ist es da nicht erstaunlich, dass wir sie häufig vertauschen? Besonders die digitale Welt ist anfällig für diese Verwechslung.
Michael Schratz hat zwei Perspektiven auf Unterricht eingeführt (2009): Wir können Unterricht „lehrseits“ oder „lernseits“ denken. Es sind zwei unterschiedliche Perspektiven auf das Setting, das wir „Unterricht“ nennen und das, was bei den Beteiligten passiert – oder auch nicht passiert. Denn wohl nur in der Theorie mag es sich inzwischen herumgesprochen haben, dass Lehren und Lernen nicht direkt miteinander gekoppelt sind. Es wird nicht automatisch gelernt, was gelehrt wird. Die Aufklärung dieses Trugschlusses ist in der Praxis längst nicht überall wirksam. Im Gegenteil. Die lernseitige Perspektive ist nach wie vor im Hintertreffen oder wird weiterhin als direktes Resultat lehrseitiger Maßnahmen gedacht.
Die prä-digitale Bildungswelt denkt lehrseits
Schaut man sich unsere Bildungsinstitutionen (zum Beispiel die Schule) an, so erkennt man die bipolare Trennung und das Schwergewicht auf der lehrseitigen Perspektive bereits auf der sprachlichen Ebene:
- Wir unterscheiden die beteiligten Personen in Lernende einerseits und Lehrende / Lehrkräfte andererseits. Man kann sogar ein Lehramt dafür erhalten.
- Lehrende verfügen über Lehrbücher, Lehrfilme und andere Lehrmittel.
- Wir gestalten Orte als Lehrräume, die nicht immer identisch mit Lernräumen sind, aber auch nicht mit dem Lehrerzimmer. Es gibt sogar Lehranstalten, in denen der Lehrbetrieb stattfindet.
- Lernende können (nicht immer) aus einem Lehrangebot wählen, wenn sie einen Lehrgang oder andere Lehrveranstaltungen besuchen. (Auch eine Schule, eine Hochschule oder andere Lernorte besucht man übrigens. Es ist irgendwie nicht der eigene Ort, man ist ja nur zu Besuch.)
Die digitale Bildungswelt tut so, als denke sie lernseits
Schauen wir nun auf einige zentrale Begriffe, die im Kontext von Bildung und Digitalisierung kursieren, so könnten wir auf die Idee kommen, hier würde lernseits gedacht.
- Grundsätzlich wird als Oberbegriff häufig vom Digitalen Lernen gesprochen.
- Eine sehr beliebte Medienform sind in diesem Kontext die digitalen Lernvideos.
- Die meisten Schulen versuchen, die digitale Welt über sogenannte Lernmanagementsysteme (LMS) zu organisieren. Diese werden auch Lernplattformen genannt.
- Ein Konzept, das in Sachen Digitalisierung derzeit als nächste Stufe des E- Learnings viel diskutiert wird, nennt sich Adaptive Learning.
Lernseitige Begriffe tarnen lehrseitige Konzepte
Nun könnte man aus dieser sprachlichen Verschiebung den Schluss ziehen, dass im digitalen Kontext mehr vom Lernenden aus gedacht wird. Aber die Begriffe lassen sich leicht entlarven. Dabei entpuppen sich als eindeutig lehrseitige Konzepte:
- Der Oberbegriff Digitales Lernen verschleiert, dass vor allem lehrseitige Aktivitäten digitalisiert werden. Das offensichtlichste Symptom ist, dass die meisten Akteure dabei zuerst an digitale Tafeln (Interaktive Whiteboards) denken – also das lehrseitigste Medium überhaupt.
- Die Lernvideos sind eigentlich ganz klar Lehrvideos. Denn in aller Regel übernimmt jemand im Video die Rolle eines Lehrenden und belehrt die Lernenden, die vor dem Video sitzen.
- Die Lernmanagementsysteme müssten eigentlich Lehrmanagementsysteme heißen. Denn sie liegen klar in der Hand der Lehrkräfte, die dort Ablauf, Materialien und Kommunikation des Unterrichts managen. Die Lernenden sollen im LMS nur dem folgen, was lehrseitig vorgegeben wird.
- Die Idee von Adaptive Learning verspricht eigentlich genau das Gegenteil, nämlich Adaptive Teaching oder besser Adaptive Instruction. Denn ihr Versprechen besagt, dass Inputs und Aufgaben, also das Lehrangebot, sich dem Lernenden anpasst – nicht umgekehrt.
Vorsicht und Hoffnung
Man sieht, dass im digitalen Kontext zwar häufig lernseitige Begriffe genutzt werden, diese tatsächlich aber meist nur schlechte Tarnungen für eindeutig lehrseitige Konzepte sind. Das muss nicht heißen, dass eine stärkere Orientierung an lernseitigen Fragen im Digitalisierungskontext nicht möglich, sinnvoll und wünschenswert wäre – viele Aufsätze in diesem Buch zeigen genau das. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir nicht aus der modernen Technik und den verführerischen lernseitigen Begriffen alleine schon auf eine moderne Pädagogik schließen. Häufig ist sogar das Gegenteil der Fall.
Quellenangaben:
Schratz, Michael (2009): ‚Lernseits’ von Unterricht. Alte Muster, neue Lebenswelten – was für Schulen? Lernende Schule 12 (46-47), 16-21.
Empfehlungen zum Weiterlesen:
- Axel Krommer: Paradigmen und palliative Didaktik. S. 81
- Philippe Wampfler: Digitale Didaktik: ein Konzept. S. 221
- Jöran Muuß-Merholz: Sitzsäcke sind das neue Sprachlabor. Digitale Geräte, K.I. und bunte Möbel machen noch keine moderne Schule. S. 227
Guter Artikel,
leider unterliegt das Bildungssystem an vielen Stellen diesem Lehr-Lern-Kurzschluß.
Und die unzähligen und seit Jahrzehnten aufgelegten digitalen Förderprogramme reproduzieren oft diese Fixierung auf die Lehrenden auch wenn sie in der Verkleidung von
individuellem, selbstbestimmten Lernen daher kommen.
Ist zwar aus der Zeit vor dem Internet, trotzdem erachte ich Holzkamp und seinen Lernbegriff boch immer differenzierter und passender als vieles was aktuell publiziert wird. Bspw hier
https://www.kritische-psychologie.de/1992/die-fiktion-administrativer-planbarkeit-schulischer-lernprozesse
Ja, es stimmt: „Lernseitige Begriffe tarnen lehrseitige Konzepte“. Aber die Verwechslung von Lehren und Lernen hat Tradition. Sie ist keine Erfindung der Bildungsindustrie. Während in den Lehrplänen seitenweise Kompetenzen beschrieben werden, die von den Schülerinnen und Schülern zu erwerben sind, steht in unseren Schulen immer noch das Lehren von Inhalten im Mittelpunkt. Solange sich das nicht grundlegend ändert, werden sich digitale Lehr-/Lernangebote durchsetzen. Plattformen wie bettermarks lehren besser als mancher Lehrer. Darüber hinaus ist das Lernen(!) mit den interaktiven Aufgaben weitgehend selbstgesteuert. Im Klassenverband kann davon keine Rede sein.
Inhalte lassen sich hervorragend digitalisieren. Lernformen wie z. B. das projektbasierte Lernen eher nicht. Denn dabei geht es um den Erwerb von Handlungskompetenz, die auch in Zukunft nicht digitalisierbar sein wird, weil sie an das lernende Subjekt gebunden ist. Aber das spricht sich erst langsam herum (In den Architektur-Schulen in Italien und Frankreich wurde bereits im 16. Jahrhundert projektbasiert gelernt). Warten wir also noch ein Weilchen bis die personelle Ausstattung der Schulen sich so weit verschlechtert hat, dass die digitalen Lehrangebote sich als Lösung geradezu aufdrängen werden 😉
Hallo
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Danke im Voraus
zack sunday
Digitale Bildung ist jetzt nah wie vor sehr aktuell. Jetz, wenn viele Länder Quarantäne haben kann digitale Bildung für Schüler und Auszubildende von großer Vorteil sein.
Ich halte nichts von der digitalen Bildung, wärend der Corona Zeiten war es okay aber Bildung indem man auch sozial wird ist natürlich besser.
Lg Tilda