Wem gehört die Prüfung? Anders gefragt: Für wen machen wir das, was wir in einer Schule, einer Hochschule oder anderen Bildungseinrichtung machen, wenn wir Tests, Klassenarbeiten, Klausuren, Präsentationen, Referate, Abschlussarbeiten, Portfolios oder andere Möglichkeiten nutzen, die das Lernen evaluieren? Mir fallen fünf Antworten ein.
Assessments* haben in der Bildung und in der Gesellschaft Bedeutung auf verschiedenen Ebene. Es hilft, wenn wir uns über die Funktionen im Klaren sind und in Diskussionen um alternative Formen von Assessments einordnen, worum es uns geht. Also, für wen oder was machen wir eigentlich so etwas wie eine „Prüfung“, beispielsweise einen Wissenstest, eine mündliche Abschlussprüfung, einen Essay oder ein Webvideo? Wem „gehört“ diese Prüfung?
1. Die Prüfung gehört der Gesellschaft
Prüfungen sollen für die Gesellschaft nachweisen, dass Menschen etwas gelernt haben, so dass man später darauf aufbauen oder selektieren kann. („Jöran hat Abitur, er darf an die Uni.“)
2.Die Prüfung gehört dem Lernenden
Prüfung sollen für den Lernenden sichtbar machen, was er kann und was noch nicht, was er ggf. noch lernen will oder soll. („Jöran kann x schon gut und sollte y noch üben.“)
3. Die Prüfung gehört dem Lehrenden
Prüfungen sollen der Lehrperson zeigen, was die Lernenden mit ihrer Unterstützung gelernt haben, so dass sie ihr Lehrangebot anpassen und weiterentwickeln kann. („Herr Muuß-Merholz‘ Erklärung zu x ist offenbar missverständlich, denn viele Lernende haben x falsch verstanden.“)
4. Die Prüfung gehört der Institution
Prüfungen sollen einer Bildungseinrichtung (oder einem Bildungssystem) helfen, Stärken und Schwächen ihrer Arbeit zu evaluieren. („Die Leistungen der Lernenden sind morgens um 8 Uhr sind im Durchschnitt deutlich besser als um 14 Uhr – das sollten wir uns genauer anschauen.“)
5. Die Prüfung gehört Dritten, der Welt
Prüfungen haben Ergebnisse, die nicht nur indirekt, sondern auch direkt für Menschen in der „Real World“ interessant sein. („Mit den von der Lerngruppe im Blog dokumentierten Lernergebnissen können Dritte wirklich etwas anfangen.“)
*Hintergrund: Alternative Assessments
Die Überlegungen waren für mich ein Ergebnis aus der Session „Alternative Prüfungsformate“, die Philip Stade beim Barcamp Freiburg 2018 angeboten und hier in seinem Blog dokumentiert hat.
Mich beschäftigt das Thema besonders seit dem Buch „Die vier Dimensionen der Bildung. Was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert lernen müssen“, in dem die Autor*innen feststellen, dass jegliche Reform von Bildungszielen und -inhalte an der Frage nach den Assessments hängen. „Assessments“ habe in diesem Buch übrigens bewusst nicht übersetzt, weil wir im Deutschen keinen Begriff mit dem gleichen Umfang haben.
Noch ein loser Gedanke darüber hinaus: Man könnte mal schauen, wo „Prüfung“ in der Gesellschaft jenseits von Bildung genutzt werden und wie ihre Funktion ist. „Prüfung“ wie bei „Lebensmittelkontrolle“ oder „Medizinischer Checkup“.
Der Vergleich mit Checkup ist gut … (Lebensmittelkontrolle: Ist es schon Gammelfleisch?)
Es fehlt (6):
Prüfungen gehören der zentralen Daten-Institution. (Das ist nicht dasselbe wie die Schule usw.)
Sie erzeugen strukturierte Daten, und mit denen kann man alles mögliche anfangen. Deshalb müssen Prüfungen (und damit Lehr/Lernprozesse) möglichst von Anfang an auf die Datenverqarbeitung hin ausgelegt werden. (Multipole Choice, Lückentext, automatisierte Auswertung von Freitext …) Das hat drei Verwendungen:
– Einmal politisch (wie PISA und die OECD immer vorführen).
– Dann kommerziell (das ist das EdTech-Bigdata-Geschäftsmodell, demnächst auch in Ihrer Bildungscloud.)
– Und natürlich, um Lernprozesse besser zu „optimieren“ und zu „personalisieren“, d.h. de facto: die Lernenden zu manipulieren udn abzurichten. Prüfen=Lernen: Das ist ja schon das Grundprinzip der „Teaching Machine“ von Skinner.
– Am Horizont fallen die erworbenen Punkte mit der „Prüfung“ ohnehin zusammen. Im Prinzip ist das ja im Studium und Oberstufe eh schon so. Jeder Punkt zählt.
sehr interessanter Artikel!
sehr informativ vielen Dank
Ich habe damals gelernt: eine Prüfung ist eine gemeinsame Rückschau auf das gelernte.
Lieber Jöran,
herzlichen Dank für die erhellende Perspektive. Auch wenn ich sie erst Jahre später durch deinen Tweet (wieder)entdeckt habe.
Wären (zumindest im Schulkontext) die Eltern vielleicht auch als „Eigentümer“ von Prüfungen anzusehen?
Um deine Beispiele fortzuführen, würde das irgendwie so lauten:
„André beherrscht x noch nicht in wünschenswertem Maße. Im Sinne unserer gemeinsamen Erziehungsaufgabe bitten wir Sie, ihn stärker zum heimischen Lernen anzuregen.“ … oder so ähnlich.
Spannende Perspektive, André! Dein Beispiel klingt sofort nach sozialer Ungerechtigkeit und falscher Arbeitsteilung. Aber jenseits dessen wird das Thema im Digitalisierungskontext besonders interessant, weil digitale Plattformen häufig mit dem Argument beworben werden: „Auch die Eltern können hier immer auf dem Laufenden bleiben, was in der Schule passiert.“
Prüfungen und die damit verbundenen Noten
– gelten nur zu dem Zeitpunkt, wo sie erworben wurden;
– gelten nur in der Klasse, in der sie erworben wurden;
– gelten nur bei dem Lehrer bei dem sie erworben wurden;
– haben nur eine geringe Aussagekraft über einen späteren beruflichen Erfolg.