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Grundschule Kleine Kielstraße, Dortmund (2006)

Grundschule Kleine Kielstraße, Foto von Jöran Muuß-Merholz
Grundschule Kleine Kielstraße 2006, Foto von Jöran Muuß-Merholz

Gestern schrieb ich von den Anfängen des Deutschen Schulpreises 2006, bei dem als erster  Hauptpreissieger die Grundschule Kleine Kielstraße in Dortmund ausgezeichnet wurde. Dabei fiel mir ein Text auf den Bildschirm, den ich damals, Ende 2006, für das AdZ-Netzwerk geschrieben hatte. Damit das Internet nichts vergisst, kopiere ich den mal hierher. Am Ende gibt es auch ein kleines Video von damals. (Kaum zu glauben, wie die Webvideo-Bildqualität vor nur 9 Jahren war …)

Eine Schule, die Antwort gibt – die Grundschule Kleine Kielstraße, Dortmund

Es ist der 11. Dezember 2006, 12.30 Uhr, als Schulleiterin Gisela Schultebraucks ihre Schüler umarmt. Das hatte die Regie so nicht vorgesehen. Gerade eben wurde auf der Bühne vor ihr und live im Fernsehen verkündet, dass die Grundschule Kleine Kielstraße den Deutschen Schulpreis gewonnen hat. Und eigentlich soll nun die Schulleiterin mit einem Schüler auf die Bühne kommen und den Preis entgegennehmen.

Stattdessen springen die Schulleiterin und ihre Kollegen auf, laufen zu ihren Schülern, die die Regie kamera-gerecht in der ersten Reihe platziert hat, umarmen sie und jubeln gemeinsam.

Eine Woche zuvor: In der Grundschule Kleine Kielstraße in der Dortmunder Nordstadt ahnt man noch nicht, dass die Jury für den Deutschen Schulpreis, die pluralistisch mit pädagogischer Prominenz besetzt ist, der Schule ein erstklassiges Zeugnis ausgestellt hat. In der Laudatio wird stehen: „Die Grundschule Kleine Kielstraße verbindet pädagogische Leidenschaft mit professionellem Können und modernem Qualitätsmanagement, reformerische Vitalität und Entwicklungsdynamik mit verlässlichen Strukturen und Routinen.“ An diesem Morgen sieht das so aus: Schon um 7.30 Uhr warten die ersten Kinder vor dem Schulgebäude. Der Frühdienst bietet ein Frühstück für diejenigen an, die zu Hause nichts bekommen. Wenn die Schüler in ihre Klasse kommen, ist die Lehrerin bereits da und hat Raum und Materialien vorbereitet. Im Klassenraum sucht der Besucher die Tafel. Dabei gibt es sogar drei Tafeln, aber die sind allesamt von braunem Papier verdeckt, auf dem diverse Karten, Schilder und Bilder verteilt sind. Der Klassenraum gleicht für Erwachsene einem umgekehrten Wald: Überall hängen Dinge von der Decke oder quer durch den Raum: Leinen mit den Klassenregeln, mit Lampions, ein Adventskalender, Dinge zum aktuellen Arbeitsthema „Luft und Wind“ und überall Buchstaben und Zahlen.

So vielfältig wie die Arbeitsumgebung ist auch der Unterricht gestaltet. Schüler und Lehrer arbeiten strukturiert und differenziert nach individuellen Förderplänen. Von Anfang an lernen die Kinder, ihr eigenes Lernen zu reflektieren und einzuschätzen. Die ersten zwei Schuljahre sind in acht „E(ingangs)-Klassen“ zusammengefasst. Manche Kinder durchlaufen diese Klasse auch in einem Jahr, manche bleiben drei Jahre. Für die acht E-Klassen gibt es ein Lehrerteam, das sich wöchentlich trifft, das gemeinsame Vorgehen bespricht und die Arbeit aufteilt. Nicht nur die Inhalte, auch die räumlichen und sozialen Strukturen der acht Parallelklassen sind aufeinander abgestimmt. Wenn einmal eine Lehrerin ausfällt, so bekommt ihre Klasse keinen Vertretungslehrer. Stattdessen gibt es in jeder Klasse eine Liste mit einer Aufteilung, welche drei bis vier Schüler in welche Parallelklasse gehen. Dort kennt man sie schon und man weiß, woran sie arbeiten. Auch das aktuelle Arbeitsmaterial finden sie am gewohnten Ort. Es gelten die gleichen Regeln und es gibt die gleichen Rituale.

„Das Essen ist bei uns ganz wichtig“, sagt eine Lehrerin auf dem Weg zur Teambesprechung, „das ist Teil unserer Kultur hier.“ Zu jeder Besprechung gibt es nicht nur Kaffee und Kekse, sondern ein kleines, aber entscheidendes „Mehr“, das den Wert des Treffens reflektiert. Jeden Freitag wird im Wechsel von Kolleginnen ein besonders attraktives „Lehrer-Buffet“ organisiert. Das Kollegium hat für die Preisverleihung des Deutschen Schulpreises einen flexiblen Ferientag eingeplant, um mit der kompletten Mannschaft nach Berlin zu fahren, die Preisverleihung zu verfolgen und zu feiern. Man merkt, dass hier nicht nur professionell kooperiert wird, sondern dass ein verbindender „team-spirit“ waltet.

Die Schule Kleine Kielstraße wurde 1994 gegründet. Schulleiterin war von Anfang an Gisela Schultebraucks, die schon vorher als Lehrerin in der Dortmunder Nordstadt arbeitete, ein typischer sozialer Brennpunkt. Sie hat die Schule von der ersten Stunde an als Antwort auf die gegebenen Umstände aufgebaut. Auf der ersten Lehrerkonferenz wurde ein Schulprogramm entworfen, das Schultebraucks bis heute als Ausgangspunkt aller Entwicklungen sieht: „Schule im sozialen Brennpunkt ist viel mehr als nur Unterrichtsstätte. Selbst wenn wir unsere Aufgabe primär im Bereich Lesen, Schreiben, Rechnen sehen, müssen wir existentielle Hindernisse bei den Schülern aus dem Weg räumen, die sie vom Lernen abhalten.“

Gisela Schultebraucks’ Engagement für eine neue Schule lässt sich auch mit ihrer Biographie in Verbindung bringen: Vor Jahrzehnten saß sie selber als Schülerin in just diesem Gebäude. Daran hat sie keine guten Erinnerungen. Und so hat sie vieles anders gemacht. Zum Beispiel die Elternarbeit und die vorschulische Arbeit. Schon neun Monate vor der Einschulung werden Eltern und Kinder eingeladen, um einen gemeinsamen „Blick auf das Kind“ zu werfen. Bei einschlägigen Entwicklungsdefiziten bekommen die Eltern einschlägige Materialien und die Kinder Kurse zur Förderung z.B. der Motorik, der Sprache oder des Zahlenverständnisses. Die Resonanz ist sehr gut.

Viele Mütter beherrschen die deutsche Sprache kaum. Manche können nicht einmal lesen. Also hat die Schulleiterin Sponsoren für Deutschkurse aufgetrieben, die zweimal die Woche in der Schule stattfinden. Viele Mütter kamen nicht, weil sie weitere kleine Kinder zu betreuen haben. Also hat die Schule im Nachbarraum zu den Deutschkursen eine Kleinkindbetreuung organisiert. Inzwischen ist das „Elterncafé“ jeden Tag geöffnet. Es geht nicht nur um die deutsche Sprache. Dort wird auch gelernt, wie man eine neue Wohnung sucht, wie man sich beim Arztbesuch verhält und wie man den Medienkonsum der Kinder gestaltet. Es gibt „Rucksackmütter“, die Eltern aus der gleichen Ethnie beraten und beim Gang zum Sozialamt, zum Arzt oder auf Wohnungssuche begleiten. Die Schule kooperiert mit zahlreichen Institutionen und Projekten im Stadtteil. Es kommen zum Beispiel Polizisten in die Schule, um mit den Eltern über „Sicherheit im Stadtteil“ zu sprechen. Und viele Mütter kommen auch einfach so, manche inzwischen fast jeden Tag.

Grundschule Kleine Kielstraße, Foto von Jöran Muuß-Merholz
Grundschule Kleine Kielstraße 2006, Foto von Jöran Muuß-Merholz

„Es geht auch anders“, lautete das Motto für den Deutschen Schulpreis. Was macht nun diese Schule anders als viele andere Schulen? Es sind ihre Akteure. Alle die hier arbeiten, wollen Antworten geben. Antworten auf die Umstände, die eben da sind. Niemand klagt, dass die Rahmenbedingungen zu schwierig und die Räume zu klein sind, dass das Geld zu wenig und die Arbeit zu viel ist, dass über 80% der Schüler einen Migrationshintergrund haben, dass Eltern sich nicht für die Bildung der Kinder interessieren würden. Die Akteure an der Schule begreifen sich als Handelnde, nicht als Opfer. Sie wollen Antworten geben.

„Im Grunde ist die Schule eine Antwort auf die Kinder, ein ständiger Dialog“, sagt Schulleiterin Gisela Schultebraucks, „und es geht um die warmherzige Zuwendung zum einzelnen Kind.“

Videoausschnitt aus dem Kurzfilm „Lernen kann man überall“ von Reinhard Kahl, Archiv der Zukunft, erstellt für das Forum Demographischer Wandel des Bundespräsidenten im November 2007

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