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Es gibt keinen Raum namens „Anywhere“ – woran e-learning scheitert.

eine Bürotür mit einem Schild, auf dem „Anywhere“ steht
(k)ein Raum mit dem Namen „Anywhere“

Ein großes Versprechen des Lernen mit digitalen Medien lautet: „Learning Anywhere Anytime!“ Dummerweise funktioniert das nicht.

Text „Microlearning – 24/7 und überall“

Schlecht: keine Zeit für Lernen

Man kann mit digitalen Medien („e-learning“) zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Platz lernen. Aber nur theoretisch. In der Praxis kann man nur zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort lernen. Und da wird es schwierig. Gerade weil das Lernen jederzeit und an jedem Ort stattfinden könnte, findet es häufig gar nicht statt. Denn alle Zeiten sind im Arbeitsalltag schon mit anderen Dingen belegt.

So kommt es, dass manche Menschen sich gezielt Lernzeiten in den Kalender schreiben. Sie versuchen dann verzweifelt, ihren Kolleg*innen, wenn diese sie am Schreibtisch ansprechen, klarzumachen: „Ich bin gerade gar nicht hier! Ich lerne gerade!“ Oder sie weichen auf das Wochenende aus.

Besser: künstliche Verknappung der Zeit

Ich habe die Erfahrung gemacht: Beim Arrangieren von Lehr-Lern-Settings mit (eigentlich) großer zeitlicher Flexibilität sorgt eine künstliche Verknappung der Zeit für mehr Beteiligung. Ein solches Phänomen sieht man z.B. bei Fristen: Man bekommt bisweilen mehr Rücklauf bei einer Deadline von 3 Tagen gegenüber einer Deadline von 3 Wochen.

Gefährlich: der „Muss-ich-mir-in-Ruhe-angucken“-Stapel

Die „Anytime Anywhere“-Orientierung scheitert an der Unterscheidung zwischen #dringend und #wichtig im Arbeitsalltag. Ein jederzeit mögliches Lernen ist zwar #wichtig, aber nicht #dringend. Deswegen wird es aufgeschoben oder kommt auf den „Muss-ich-mir-in-Ruhe-angucken“-Stapel. Und dieser Stapel ist für mich (und wohl die meisten Menschen) der Stapel, der nie mehr angeschaut wird.

Zukünftig: der LernRaum

Das moderne Schlagwort Workplace Learning wirbt für Konzepte, die das Lernen direkt in den Arbeitsprozess einbinden und an den Arbeitsplatz verorten. Dafür spricht vieles, aber nicht alles. Eine künstliche Verknappung ist häufig auch für den Raum sinnvoll. Im Text „Wie lernen wir (über-)morgen? Ein Ausblick auf die Bildung der Zukunft“ habe ich für eine Organisation beschrieben, in der es einen expliziten LernRaum gibt. Wichtig für die Akzeptanz eines LernRaums ist nicht nur ein schöner Ort, sondern auch Konventionen rund um diesen Ort, mit dem auch LernZeiten verbunden sind.

Solange es keine expliziten LernRäume gibt, suchen sich Menschen Orte, die sie für sich zu Lernräumen umdeuten. Der Klassiker ist die Bibliothek, deren Arbeitsplätze immer größeren Zulauf erfahren, obwohl die papierenen Ressourcen vor Ort immer weniger relevant sind. Als alternative LernRäume sind auch Starbucks oder eine Bahnfahrt sehr beliebt.

Kaffeehaus mit drei Menschen in Computern und anderen Medien vertieft
offenbar ein guter LernRaum: ein Kaffeehaus

Die Co-Lernenden

Das Beispiel der In-Ruhe-Lernen-Gelegenheit „Bahnfahrt“ zeigt, wie verflochten Raum und Zeit in dieser Frage sind. (Ist eine Bahnfahrt eine Zeit oder ein Ort?) Und als eine dritte Ebene kommt das Soziale hinzu. Es spielt eine Rolle, dass im LernRaum, in der Bibliothek, im Kaffeehaus oder in der Bahn andere Menschen co-präsent sind. Das liesse sich mit Geselligkeit oder sozialem Druck begründen. Auf jeden Fall ist es relevant.

Menschen können nur zu konkreten Zeiten, in konkreten Räumen und in konkreten sozialen Settings lernen. Lernangebote, die das ignorieren, haben ein Problem. Alle Zeiten sind schon besetzt. Und es gibt keinen Raum namens „Anywhere“.

Und Ihr so?

Wo und wann lernt Ihr zielgerichtet Dinge, zu denen Ihr im Arbeitsplatz-Alltag nicht kommt? Schreibt einen Kommentar!

10 Gedanken zu „Es gibt keinen Raum namens „Anywhere“ – woran e-learning scheitert.“

  1. Danke für diesen Artikel! 🙂

    Bei uns Lehrern ist der heimische Schreibtisch ja als Korrektur- und Vorbereitungsort besetzt, sodass ich mich dann, wenn ich etwas Neues erfahren oder das Gelernte in einem Text tiefer verarbeiten möchte, häufig dabei erwische, dass ich nach einem besseren/ positiver besetzten Ort für das suche, was ich gerade tun möchte. Dann ist das „Anywhere-Versprechen“ der digitalen Medien wiederum eine tolle Errungenschaft: Wenn das Café sich nicht richtig anfühlt und gerade keine Bahnfahrt ansteht, kann auch eine Parkbank (bei entsprechendem Wetter) ein toller Lernort sein. Geht es „nur“ ums Lesen, einen Podcast oder ein Video nehme ich mir die Medien mittlerweile auch mit ins Fitnessstudio und mache zielgerichtetes Multitasking.

    Anfangs hatte ich noch Sorge, dass mich das jeweils neue Suchen des richtigen „anywhere“ dazu verleiten würde, nicht abzuschalten, aber eigentlich ist das Gegenteil der Fall, weil der Ortswechsel oft zu einer größeren Produktivität führt statt blockiert am Schreibtisch um eine Eingebung oder die Motivation zu ringen, wodurch sich der Lern-Feierabend entsetzlich nach hinten verschieben kann.

    Herzlichst
    Kristina

  2. Schöner Artikel, der es auf den Punkt bringt! Beliebigkeit führt oft zu Ziellosigkeit.

    Was du über Lernen schreibst, gilt für jede Form von geistiger Einzelarbeit, genannt „deep work“. Dass das an der Bushaltestelle auf dem Handy nicht funktionieren kann, liegt auch daran, dass die ach so frei einteilbaren Ressourcen Zeit und Raum dort nur bruchstückhaft vorhanden sind, gemessen in Minutenbruchteilen und Quadratzentimetern.

    Ein guter LernRaum bietet physischen Platz wie einen freien Tisch, besser noch dazu eine Tafel, um darauf Informationen räumlich ordnen zu können. Die Raum- und Körperwahrnehmung bleiben beim Starren auf Bildschirme verkümmert, der visuelle Kanal allein bleibt hinter dem Möglichen zurück.

    Weiterhin brauchen wir auch, wie du sagst, dedizierte LernZeit, um Störungen von außen zu unterbinden und die Aufmerksamkeitsspanne, die für „deep work“ nötig ist, überhaupt zu ermöglichen. Das ist ganz analog zur Ressource Raum.

  3. Interessante Gedanken zu wichtigen Aspekten.
    Dass „Muss-ich-mir-in-Ruhe-angucken“ reizt mich zum Weiterdenken:
    Warum bleibt gerade das unangeguckt? – Meiner Meinung nach wegen 1. des „muss“ (was man muss, ist noch lange nicht, was man will), und 2. wegen der Ruhe. Denn die Ruhe ist so kostbar. Wenn man sie hat, macht man definitiv nur, was man will, denn die 99% Unruhezeit (wo man macht, was man muss, also Arbeiten, Haushalt, Schlafen, Essen, Pinkeln, Körperpflege), macht man eben, was man muss.
    Was mich wieder zu meinem Lieblingsthema bringt: Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass man nur lernt, wenn man das will und was man will. Und das Wollen (immer verknüpft mit dem persönlichen Sinn) ist offenbar schwer bzw. selten. Es muss gelernt und trainiert werden, Sinn zu bilden, zu Wollen und dann zu tun, was man will. Dafür muss man nämlich die Entscheidung treffen, das, was man muss – oder glaubt zu müssen – zurückzudrängen ODER das Müssen und das Wollen in eine immer prekäre und innerlich umstrittene Übereinstimmung zu bringen.
    Will ich morgens im Dunkeln und Regen raus zum Laufen oder muss ich? Will ich dieses Buch lesen, auch wenn es anstrengend ist und ich EIGENTLICH so erschöpft bin, dass ich nur „hier sitzen“ möchte, um in Ruhe auszuruhen vom Müssen?
    Wer die Chancen hat, sein Müssen auf ein Minimum zu reduzieren (das ist der neue Minimalismus pur!), der hat die Chance überhaupt mal auszuloten, was er überhaupt will, wenn er wollen darf. Und dann erst kann er den Stapel „Muss ich mir in Ruhe angucken“ daraufhin prüfen, ob er ihn überhaupt in Ruhe angucken will.

  4. Ja, hätte ich fast vergessen: Und wenn man dann weiß, dass man dieses Buch vom „Muss-ich-mir-in-Ruhe-angucken-Stapel“ unbedingt lesen möchte, dann ist es vollkommen wurscht, WO, WANN, in welcher MEDIENFORM. Denn dann beginnt der Flow, und man nimmt es überall hin mit, und liest selbst beim Pinkeln oder Essen daran weiter, versäumt die Party, ärgert sich über einen Anruf, der dazwischen kommt … etc. Dann weiß man definitiv, was man will.

  5. Richtig gut lernen und tief einsteigen kann ich vorzugsweise zu Hause, morgens von 6-8 Uhr. Am Esstisch oder im Arbeitszimmer. Da lege ich am Abend vorher alles bereit, und kann dann morgens zielgerichtet erst zur Kaffeemaschine und dann zu meiner bevorzugten Arbeitsumgebung.
    In einer Bibliothek wäre es theoretisch auch möglich – aber mit mehr Aufwand verbunden.
    Unterwegs (Bahn, Café) kann ich gut lesen oder Podcasts hören, das würde ich eher als Informationen sammeln oder als Inspiration bezeichnen und nicht als intensives Lernen.

  6. Lernen ist für mich mehr als Wissen aneignen. Bibliotheken sind für mich vorzugsweise Orte, an denen ich lese, mich informiere. Ich lerne am besten, wenn ich mein Wissen mit anderen teile oder wenn ich es in Handlung umsetze. Das, was in Schule so selten passiert. Wenn ich deinen Text auf mich wirken lasse und nun diesen Kommentar schreibe, lerne ich. Der Ort ist für mich von untergeordneter Bedeutung. Heute ist es zufälligerweise der Schreibtisch. Morgen könnte es in der Bahn geschehen. Viel wichtiger ist für mich der Zeitpunkt, der Moment, in dem ich den Text lese. Beschäftigen mich gleichzeitig noch viele andere Gedanken oder bin ich gerade in diesem Augenblick offen für dein Thema. Oder kann ich es (wie Lisa Rosa schreibt) mit dem persönlichen Sinn verknüpfen .
    Übrigens: Den Unterschied zwischen „zielgerichtet Dinge zu lernen“ und „Arbeitsplatz-Alltag, an dem ich nicht zum Lernen komme“ kenne ich nicht. Bei der Arbeit lerne ich mehr als anderswo – sowohl zielgerichtet als auch beiläufig. Es ist ein sehr nachhaltiges Lernen.

  7. Bei mir ist der richtige Platz zum Lernen ganz eindeutig daheim – und so gerne ich mit meinem Notebook im Relax-Schaukelstuhl langsam schwinge, ich habe festgestellt, dass ich am (Schreib-)Tisch am besten lerne (Prägung aus der Jungend?).
    Ganz schuldbewusst habe ich meinen „Will ich mir in Ruhe angucken“-Stapel begutachtet und freue mich auf die (bei uns) zwei Feiertage in der kommenden Woche.
    Am Arbeitsplatz wird es für mich immer schwerer konzentriert zu arbeiten, selbst wenn ich nicht gestört werden. Der Raum ist dafür irgendwie „verbrannt“.
    Podcasts höre ich übrigens morgens und abends im Bus zur und von der Arbeit. Das entschleunigt total und macht sogar die chronische Überfüllung und Verspätung verkraftbar.

  8. Sehr richtig! Allgemein bekannt und völlig missachtet… und da wundert sich die Personalentwicklung, wieso die Mitarbeitenden das Digital-Learning-Angebot nicht nutzen 😉 Gegentrend: gemeinsames Learning-by-doing live und präsent beim Design Thinking.

  9. Arbeit und Lernen geben sich bei mir oft die sprichwörtliche Hand. Im Arbeitskontext taucht eine Frage auf (bin in der Erwachsenenbildung) und ich suche nach möglichen Antworten. Ich halte die Augen und Ohren offen. Sonst wäre ich auch nicht hier auf dem Blog gelandet 🙂 Das ist schon mal eine From des MicroLearnings. Aber zugegeben, es geht auch vieles unter, was dringend und so wichtig ist. Ich kenne auch die Stapel des wenn-ich-mal-richtig-viel-Zeit-habe. Andererseits suche ich auch konkret in diesen Stapeln nach Antworten, wenn mich etwas interessiert. Und Lernen findet für mich am besten erst einmal allein, in meinem Tempo, dann im Austausch statt. Da stellt sich eher die Frage, mit wem kann ich mich über was austauschen? Dass es für beide Seiten auch interessant ist. So bleibt mehr haften, ist sinnreicher und lebhafter. Aber für mich stellt sich auch immer wieder die Frage, wie kann ich die Begeisterung für das Lernen weitergeben? Sind solche MicroLearnings nicht auch eine Idee, um sich kurz inspirieren zu lassen und die Inhalte bei einer Bahn- oder Busfahrt wirken zu lassen? Oder um sich zu erinnern – ja, da war etwas, ich denke noch einmal darüber nach? Und gar keine Frage, Bahnfahrten sind natürlich toll zum Abbau jeglicher Stapel!

  10. Hmm, mein Kommentar wird leider nicht angezeigt, ich versuch es noch mal:
    Also ich finde den Artikel spannend, weil die Orts- und Zeitungebundenheit normalerweise immer als einer der großen Errungenschaften des E-Learnings verstanden wird. Dabei bringt es offenichtlich auch Schwierigkeiten mit sich.

    Ich habe den Gedanken in meinem Blogbeitrag über die Nachteile von E-Learning aufgegriffen.

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