These: Die Meinungsmacher in Medien und Politik reden viel mehr vom Abitur und vom Gymnasium als von der beruflichen Bildung. Sie haben eine verzerrte Wahrnehmung, weil sie das Gymnasium aus persönlicher Erfahrung, aus ihren Familien und Freundeskreisen viel besser kennen. Die berufliche Bildung ist ein stummer Riese.
Abitur als das Corona-Thema 2020 und 2021
Am 8.9.2020 veröffentlichte die OECD den Bericht „Bildung auf einen Blick 2020“, in dem die berufliche Bildung im Mittelpunkt steht. Diese Nachricht ist dem heute journal an diesem Abend nicht einmal eine Meldung in den Nachrichten wert.
Stattdessen gibt es einen Beitrag „Schulbeginn in Bayern – Schüler sorgen sich um Abitur“. Der Beitrag ist schlicht. Die Abiturient*innen werden als „ein Jahrgang mit Handicap“ bezeichnet, es geht um Partys und Reisen und den „Makel des Corona-Jahrgangs“. Eine Gymnasiallehrerin vergleicht den Jahrgang 2020 mit dem 2021. Den 2020er hätte ja „nicht mehr viel gefehlt“, aber die 2021 seien „die eigentlich Gelackmeierten“.
Wir könnten an dieser Stelle diskutieren, ob das wirklich stimmt, ob das überhaupt wichtig ist, was dieses Gerede eigentlich bei Schüler*innen selbst auslöst etc. Aber ich möchte ich den Fokus auf eine andere Frage richten: Warum ist das Abitur so präsent in der Diskussion, nicht erst seit Corona, während die berufliche Bildung eher peripher diskutiert wird?
Abitur vs. berufliche Bildung
Das Gymnasium als Schulform und das Abitur als Abschluss sind sehr präsent in der Öffentlichkeit, beispielsweise in politischen Positionen, Bürgerinitiativen, Talkshows, Zeitungsartikeln und anderen Medienbeiträgen. Die beruflichen Schulen kommen in solchen Debatten selten vor und wenn, dann steht meist der Betrieb als Hälfte der Dualen Ausbildung im Vordergrund. Woher kommt dieses Ungleichgewicht?
Ist das Gymnasium schlicht viel größer, so dass man seine Prominenz quantitativ erklären könnte? Quizfrage: Wie ist das Zahlenverhältnis zwischen Schüler:innen am Gymnasium zu Schüler:innen an Beruflichen Schulen? Lösung: Gymnasien 2,2 Mio. | berufliche Schulen 2,4 Mio. (Quelle).
Liegt es an der qualitativen Relevanz? Werfen wir einen Blick in die eingangs erwähnte OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2020“. Der erste Satz im ersten Punkt auf der ersten Seite lautet: „Berufliche Bildung ist eine der Stärken des deutschen Bildungssystems“. Ihr wird für die Post-Corona-Zeit eine „Schlüsselrolle“ zugeschrieben. (Gleichzeitig stehen viele Bereiche der beruflichen Bildung vor immensen Herausforderungen.)
Die Menschen, die die Agenda bestimmen, kennen nur das Abitur
Ich vermute: Die deutliche Mehrheit der Menschen, die über die Themen auf Wahlkampfplakaten und politischen Diskussionen, Bürgerinitiativen und Talkshows, Zeitungsartikeln und anderen Medienbeiträgen entscheiden, also dass die „Meinungsmacher“ schlicht aus persönlicher Erfahrung die berufliche Bildung schlechter kennen als Gymnasium und Abitur. Sie selbst, ihre eigenen Kinder und Menschen in ihren Kollegen- und Freundeskreisen wissen schlicht wenig über die Welt der beruflichen Bildung. Sie haben sie quasi nicht auf dem Schirm. (Natürlich gilt das nicht immer und für alle.)
Hinzu kommt: Gymnasium und Abitur sind verhältnismäßig einfach zu verstehen. Das System der beruflichen Bildung ist wesentlich ausdifferenzierter und vielfältiger. Man kann es nicht in drei Sätzen kennenlernen.
Die berufliche Bildung als stummer Riese.
Das kann die Grundlage für eine starke Schieflage in der öffentlichen Debatte und damit auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sein. Das Gymnasium ist laut, weil die Meinungsmacher einen starken Bias bzw. einen blinden Fleck haben. Die berufliche Bildung ist ein stummer Riese von höchster gesellschaftlicher Relevanz, aber wenig öffentlicher Wahrnehmung.
Ohne nachzuschauen, aus dem Bauch raus, war würdet ihr raten: Wie ist das Verhältnis von Schüler*innen am Gymnasium vs. Schüler*innen an beruflichen Schulen in DE?
(Antwort unter https://t.co/qcJznPevpz)— Jöran Muuß-Merholz (@joeranDE) September 13, 2020
Hallo Jöran, vielen Dank, dass du die berufliche Bildung im Fokus rückst. Ich werde deine Einschätzung weiter verbreiten, der ich uneingeschränkt zustimme.
Danke dafür,
hätte ich nicht Besser sagen können lieberJöran – Zustimmung !
LG
Moin!
Und Danke für deine freundliche Würdigung der beruflichen Bildung!
„Das Gymnasium ist laut, weil die Meinungsmacher einen starken Bias bzw. einen blinden Fleck haben.“ Ja, das mag sein. Aber der „blinde Fleck“ wird leider immer weiter reproduziert durch eines der selektivsten Bildungssysteme der Welt. Die Vertreter*innen der beruflichen Bildung sind übrigens keineswegs stumm (https://www.bvlb.de), sie werden von den Medien nur nicht wahrgenommen (s. „Blinder Fleck“).
Das gilt leider auch für die Wahrnehmung der m. E. fortschrittlichen pädagogisch-didaktischen Konzepte in der beruflichen Bildung. Bereits Ende der neunziger Jahre wurde das Lernfeldkonzept eingeführt mit der damit verbundenen Abkehr von der Fachsystematik. Die Handlungsorientierung mit engen Bezügen zur beruflichen Praxis, Kompetenzerwerb statt Wissensakkumulation wurden zu neuen Leitlinien des Unterrichts. Eine Weiterentwicklung ist das projektbasierte Lernen auf der Basis von Projektmanagement. Projektarbeiten im Unterricht und im Rahmen von Abschlussprüfungen gehören für viele Ausbildungsberufe inzwischen zum Standard. Aber wer weiß das schon?