Projekttag 1: Die eigene Frage finden in der KZ-Gedenkstätte
Das große Blogprojekt in der Projektwoche der Hamburger Zwölftklässler beginnt offline, an einem physischen Ort: der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Ein Guide der Gedenkstätte hält keinen langen Vortrag, sondern übernimmt eine besondere Rolle. Sie hilft bei der Orientierung: „Wo sind wir? Was gibt es hier? Was findet man wo in der Gedenkstätte?“ und begleitet danach die Schüler als „Guide by the side“, indem sie sich auf Anfrage zur Beratung zu Verfügung hält. Denn die Schüler erkunden das Gelände selbständig nach eigenen Interessen. In kleinen Gruppen ziehen sie los und haben als Arbeitsauftrag nur: „Fotografiert alles, was Euch besonders anspricht, ob positiv oder negativ.“
Dieser Artikel ist Teil der 10-teiligen Reihe „Chancen der Digitalisierung für individuelle Förderung im Unterricht – zehn gute Beispiele aus der Schulpraxis“. Mehr dazu …
„Stimulated Recall“ nennt sich diese Methode, die zwei Stunden später in die nächste Phase geht: Die Schüler kommen im Plenum wieder zusammen. Jeder muss sich für ein Foto entscheiden, das er am Beamer zeigt und zu dem er erklärt, was ihn daran berührt, aufgeregt, geärgert oder irritiert hat. Das Foto stimuliert dabei alle seine Gedanken, die er dazu hatte und die Gespräche, die die kleine Gruppe an diesem Ort vielleicht darüber geführt hat. Lisa Rosa moderiert den Lernprozess. „Jeder Schüler bzw. jede Kleingruppe ein Foto – das dauert natürlich. Aber es ist wahnsinnig produktiv! Hier wird die Grundlage für das Lernen mit dem Blogprojekt entwickelt: die eigene Fragestellung.“ Denn die Schüler werden mit anderen Perspektiven konfrontiert: Sie erfahren andere Sichtweisen zu ihren eigenen Gedanken und haben die Möglichkeit, sie in Frage zu stellen, zu differenzieren oder zu korrigieren.
Die Moderatorin sammelt und visualisiert die Kernpunkte der Fragen und Statements. Für jeden Schüler schreibt sie eine Moderationskarte und sortiert sie: Handelt es sich um eine Frage zum Gegenstand erster Ordnung, also dem Konzentrationslager und den Ereignissen in der NS-Zeit? Oder ist es eine Frage zum Gegenstand zweiter Ordnung, also zur Nachgeschichte, zur Geschichte der Gedenkstätte oder zur Erinnerungspolitik? Das wichtigste dabei ist, dass die Fragen echte eigene Fragen sind, die aus der Beziehung der eigenen Person zum Gegenstand entstehen und nicht – wie so oft in Schule – einem vermeintlich sachlogischen Fragenkatalog entstammen nach dem Muster „Was könnte oder müsste man hieran eigentlich lernen?“ Stattdessen steht „Was will ich hier lernen?“ im Zentrum.
Die Schüler werden beim Ausformulieren ihrer persönlichen Fragen und dem daraus folgenden Arbeitsvorhaben individuell beraten. Danach stellen sie ihre Fragen und Arbeitsvorhaben im Plenum vor. Dabei besteht bei großen Gruppen die Möglichkeit, ähnliche Fragen in einer gemeinsamen Formulierung zusammenzufassen und Tandems oder kleine Teams zu bilden, die sich gemeinsam der Bearbeitung widmen. Damit ist die Grundlage gelegt. Für die nächsten beiden Tage der Projektwoche wird jeder Schüler bzw. jedes Tandem oder Team an seiner eigenen Fragestellung zum Thema arbeiten. Dabei wird ein gemeinsames Blog entstehen, in dem Schüler Antworten auf ihre Fragen präsentieren, die auch von Menschen außerhalb der Schule gelesen und kommentiert werden können.
In den letzten beiden Tagen arbeiten die Schüler als Gesamtgruppe daran, ihre Erfahrungen zum Lerngegenstand und zur Arbeit mit dieser Methode auszutauschen und eine geeignete Präsentation in der Schule zu entwerfen und auszuarbeiten. Am Ende der Projektwoche werden die Schüler im Feedback sagen: „Das Beste war, dass wir an unseren eigenen Fragen gearbeitet haben. Das Zweitbeste war, dass wir ‚in echt’ geschrieben haben, in einem öffentlichen Blog, den ‚echte’ Leute gelesen und kommentiert haben.“
Zusammenarbeit von Lehrenden
Das Projekt des Geschichtskurses im Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium ist bereits auf der Ebene der Lehrenden auf Kollaboration ausgelegt. Wochen vor dem Start haben sich die Geschichtslehrer Boris Steinegger und Stefanie Voigtsberger, die Guide Rosa Fava vom Museumsdienst sowie Lehrerin und Fortbildnerin Lisa Rosa zusammengesetzt, um das Projekt zu planen. Ziemlich schnell war man sich über die Eckpunkte klar. „Es braucht dann noch eine geschickte Organisation für die Prozess-Struktur“, sagt Lisa Rosa.
Lisa Rosa war 20 Jahre lang Lehrerin für Musik, Politik und Geschichte, zunächst an einer Gesamtschule in Westberlin, dann an einem Hamburger Gymnasium. Seit 2005 arbeitet sie am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Ihre Themen: Demokratielernen, Projektlernen, Lernen in der Wissensgesellschaft, Lernen 2.0. „Das gehört für mich alles sachlich zusammen!“, sagt sie. „Und wenn es auch in der Lernprozess-Gestaltung zusammenkommt, ist es für mich der Königsweg.“ Regelmäßig entwickelt und erprobt sie ambitionierte Konzepte mit Lehrern an Hamburger Schulen. Ihr Blog „shift. Weblog zu Schule und Gesellschaft“ (shiftingschool.wordpress.com) und umfangreiche Aktivitäten via Social Media bescheren Lisa Rosa immer wieder Einladungen für Vorträge und Interviews.
Projekttag 2: Ein gemeinsames Arbeitsvorhaben entwerfen
Der zweite Tag der Projektwoche beginnt mit Tipps der Expertin. Die Gedenkstätten-Guide gibt einen Überblick: Wo finde ich geeignete Materialien zu meiner Frage? Worauf sollte ich bei der Recherche achten?
Dann bilden die Schüler Tandems, die gemeinsam arbeiten. In Ausnahmefällen können sie sich auch zu dritt oder viert zusammentun. Dafür muss die eigene Frage mit den persönlichen Fragen anderer zusammengebracht werden. Für Lisa Rosa ist das eine methodische Herausforderung. „Manche Schüler wollen lieber mit bestimmten anderen Schülern zusammenarbeiten. Das ist bei Erwachsenen ja auch nicht anders. Da muss der Lehrer gut beraten, damit die persönliche Frage nicht zugunsten einer gewünschten Zusammenarbeit untergeht.“
Die Schüler arbeiten immer noch an der Gedenkstätte – jetzt in den Ausstellungen und Archiven. Da das Blog nur zur Kommunikation der fertigen Arbeitsprodukte dient, spielt es auch am zweiten Tag noch keine Rolle.
Digital bedeutet nicht automatisch motiviert
Lisa Rosa hält es für einen Irrglauben, dass Schüler alleine dadurch zu begeistern sind, dass sie irgendein Projekt mit digitalen Medien machen können. „Sie hatten das Projekt nicht frei gewählt. Sie wussten, dass sie viel schreiben müssen – das war auch für die Abiturvorbereitung wichtig. In der Vorbesprechung kam da keine Begeisterung auf. Aber das Feedback am Ende war ganz klar. Die Schüler sagten: ‚Am Anfang hatten wir keine Lust drauf. Aber dann wurde es sehr spannend und produktiv!‘“
Projekttag 3: „Das ist Euer Blog“
Am dritten Tag ist es so weit. Lisa Rosa steht neben der Leinwand und zeigt: „Das ist Euer Blog!“ Für die Einführung in das Blog wird die Klasse in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Hälfte bekommt vormittags die Einführung, die andere arbeitet weiter an ihren Arbeitsvorhaben. Am Nachmittag geht es entsprechend umgekehrt weiter. Für Lisa Rosa ist klar: „Du musst etwas vorbereiten, ein echtes Blog, nicht nur eine leere Standardvorlage. Dann gibt es Begeisterung. Du musst den Schülern sagen: ‚Ihr könnt hier im Blog alles verändern!‘ Sofort gibt es die ersten Verhandlungen untereinander. Als erstes: ‚Wir wollen das Headerbild verändern.‘ Schüler haben eines ihrer eigenen Fotos in den Kopf der Website hochgeladen.
Die Schüler erproben erste Artikel im Blog, meist kürzere Texte. In dieser Phase beobachtet Lisa Rosa immer wieder Aha-Momente. „Den Schülern wird schnell klar: ‚Das kann jetzt jeder lesen!‘ Dann wollen sie ihre Inhalte überarbeiten und verbessern.“
Das Ganze funktioniert, weil tatsächlich Menschen „aus der echten Welt“ das Blog besuchen und kommentieren. Lisa Rosa hat das Interesse über ihr persönliches Netzwerk auf Twitter und ihrem eigenen Blog organisiert. Und so stehen plötzlich Kommentare mit Fragen und Tipps unter den Artikeln der Zwölftklässler. „Da waren die Schüler platt. Es hat sie so motiviert, dass manche sogar noch nachts gearbeitet haben. Wichtig war, dass alle Schüler als Administratoren ins Blog eingepflegt wurden. Das bedeutet, jeder hatte alle Rechte, alles im Blog zu verändern. Bei dieser Gruppe führte das zu einem besonders hohen Verantwortungsbewusstsein und zu einer besonders intensiven Kollaboration.“
Projekttag 4: Bloggen
Die Arbeit an den eigenen Texten geht am nächsten Tag weiter. Der Lehrer beantwortet Fragen, berät und unterstützt bei allen Arbeiten. Es werden kurze Rücksprachen mit der Guide der KZ-Gedenkstätte gehalten. Dabei wird auch geklärt, dass Fotos aus der Gedenkstätte im Blog veröffentlicht werden können.
Die Schüler schreiben ihre Artikel in einer Textverarbeitung und lesen sie zunächst gegenseitig Korrektur. Dann veröffentlichen sie ihre Texte nach und nach im Blog und kommentieren sich zunächst gegenseitig. . Der Computerraum wird zur Blogwerkstatt.
Der Lehrer als Beobachter und Coach
Was macht eine Lehrerin eigentlich, wenn 26 Schüler den ganzen Schultag über selbstständig arbeiten? Lisa Rosa sagt: „Wenn ich Menschen erlaube, individuell zu lernen, sind sie in der nächsten Minute schon auseinander und brauchen einzelnes oder Team-Coaching. Die gute Botschaft ist: Die machen alleine schon ganz viel richtig. Da habe ich die Zeit und kann rumgehen und gucken, wer was braucht. Ich notiere mir, was ich fürs nächste Zusammentreffen für wen mitbringen muss.“ Derweil ist für Lisa Rosa hoch individuelle Beratung vor Ort angesagt. „Der eine braucht nur eine Ermunterung, auch mal einen langen Text zu lesen. Eine Gruppe kämpft noch damit, ihre Fragestellung in eine bearbeitbare Form zu bringen. Oder ich merke, dass noch für viele wichtige Grundlagen fehlen, die ich in der nächsten Plenumszeit nachliefern muss. Die Sache kann so dringlich sein, dass gleich jetzt eine Ansage für alle zwischengeschaltet werden muss. Man muss dafür sehr wach sein, denn vieles ist nicht planbar! Wenn die Schüler selbstständig und an individuellen Fragen arbeiten, heißt das nicht, dass man sich zurücklehnen oder verdrücken kann.“
Projekttag 5: Das Projekt geht offline on-line
Am letzten Tag der Projektwoche macht sich die Klasse Gedanken über die Präsentation des Projektes für den Tag der offenen Tür der Schule. Lisa Rosa: „Die erste Idee ging in die Richtung, Monitore im Schulgebäude aufzustellen. Das wurde verworfen, denn dort könnte man sich die Blog-Texte nicht in Ruhe anschauen. Also mussten die Schüler andere Formen finden.“ Die Kunstlehrerin kommt mit eigenen Vorschlägen dazu. Die Schüler wollen die Adresse des Blogs bekannt machen, also wird die Adresse als riesige Buchstaben aus Styropor ausgeschnitten und im Foyer der Schule von der Decke gehängt. Außerdem setzen die Schüler ihr Online-Projekt ins Physische um. Die Artikel werden einzeln ausgedruckt und auf eine großen Leine („on line“) im Treppenhaus aufgehängt, so dass auch Offliner sie sehen können.
Lisa Rosa ist begeistert, wenn sie von der Motivation der Schüler berichtet. „Einige Gruppen erarbeiten Plakate, die in der Ausstellung im Schulgebäude in die einzelnen Themen einführte. Für einige war die Statistik, welche Artikel wie oft aufgerufen wurden, ein großer Anreiz, so dass sie sich bemühten, durch weitere Posts und Verbesserungen der Texte noch höhere Klickzahlen zu bekommen. Eine Schülerin, die gerade zum Austausch in Texas gewesen war, wollte das Blog unbedingt ihren Freunden in Texas vorführen. Also hat sie einen einführenden Text in Englisch verfasst. Alle haben dabei ihr Lernen vertieft, weil sie den Inhalt noch einmal in eine neue Form bringen mussten, die sich an konkrete Adressaten richtete.“
Am Abend nach dem Tag der offenen Tür gibt es dann einen großen Ansturm auf die Website. Und natürlich neue Artikel im Blog, in denen Fotos von den Aktionen in der Schule veröffentlicht werden.
Personalisierung statt Individualisierung
Für Lisa Rosa wird der Begriff der Individualisierung für das Lernen häufig falsch interpretiert. „Der Begriff der Individualisierung ist oft nicht durchdacht. Man geht davon aus, dass das Lernziel festgelegt ist und der Weg dorthin individuell beschritten wird. Die Schüler werden häufig auf dem Lernweg alleine gelassen. Dabei brauchen die Lernenden doch gerade bei den Wegen Unterstützung. Genau das sollte doch unsere Expertise als Lehrer sein!“
Lisa Rosa bevorzugt den Leitbegriff des personalisierten Lernens. „Personalisierung heißt nicht, dass ich mir Fragen aus dem Katalog des Lehrers aussuche. Personalisiertes Lernen heißt, dass ich an Fragen arbeite, die tief im Inneren für mich Bedeutung haben. Das bedeutet zwangsläufig, dass das Ergebnis des Lernens nicht vorher festgelegt ist. Die Lernende müssen IHRE Lösung finden auf Fragen, die für sie Bedeutung haben. Die komplizierten Wege dorthin, die Arbeitsmethoden, die Auf- und Abs in Motivation und Zuversicht, die muss der Lehrer professionell anregen und fördernd begleiten.“
Personalisiertes Lernen bedeutet für Lisa Rosa nicht Vereinzelung. Die Schüler arbeiten individuell, in Tandems oder in kleinen Gruppen. Jeder Lernende muss zu den Fragen arbeiten, die ihn persönlich interessieren, wobei es stets einen großen komplexen Gegenstand als verbindendes Dach gibt. „Nur so lässt sich immer wieder die Gemeinsamkeit herstellen, auf die man im Plenum eingehen kann. Nur so funktioniert es, dass Lernende sich etwas zu sagen haben und ihre eigenen Perspektiven mit den Perspektiven der Anderen konfrontieren können. Auch das braucht es ja für das Lernen. Ohne Dialog geht es überhaupt nicht. Diese Konfrontation muss der Lehrer organisieren.“
Projekt „Migration und Integration“
Lisa Rosa hat große Blogprojekte auch mit anderen Schulen erprobt. „Es braucht nicht immer eine Projektwoche. Und es muss auch nicht eine Schülergruppe in einem Gymnasium sein. Wir machen das auch in der Stadtteilschule Bahrenfeld, die hat Sozialindex-Stufe 3.“ (In Hamburg gibt es die Stufen 1 bis 6, wobei 6 für die beste soziale Lage steht.)
In der Stadtteilschule Bahrenfeld hat Lisa Rosa zusammen mit dem Lehrer Max von Redecker ein Blogprojekt über 20 Wochen hinweg in den regulären Unterricht eines Profilkurses integriert. Dafür wurden in Jahrgang 12 die Stunden für Geschichte, Kunst und das sogenannte Seminarfach genutzt. Das Thema aus dem Lehrplan lautete: Migration und Integration. „Als wir den Schülern das Thema genannt haben, waren die alles andere als begeistert. ‚Schon wieder?‘, haben die gefragt“, berichtet Lisa Rosa. „Und wir haben gesagt: ‚Ja. Aber dieses Mal mit euren eigenen Themen!‘“
Ein vorbereitetes Blog als Materiallager
„In diesem Fall haben der Lehrer und ich vorab ein Blog als vorbereitete Materialsammlung erstellt. Das ist riesig, ein überbordendes Lager“ erklärt Lisa Rosa. „Davon können die Schüler sich inspirieren lassen. Natürlich können sie auch selbst Material darüber hinaus suchen und das in den Materialpool hochladen.“
Die Grundannahme für den Einstieg ins Thema lautete: Jeder hat einen Migrationshintergrund. In der ersten Stunde des Projektes zeigt Lehrer Max von Redecker seinen eigenen Stammbaum und erzählt die Geschichte seiner Familie. „Danach macht er erst einmal nichts“, schildert Lisa Rosa. „Er steht nur da und wartet. Dann erzählen die Schüler entweder ihre eigenen Geschichten oder äußern Gedanken zum Gegenstand und erklären ihr Wissen. Und der Lehrer protokolliert das auf Karten, um die Beiträge festzuhalten und beim Anpinnen zu strukturieren.“
In der zweiten Stunde werden Fragen gesammelt, kollaborativ in einem Etherpad. Anschließend geht es wie im Gedenkstätten-Projekt darum, persönliche Fragen zu identifizieren und Arbeitsvorhaben dafür zu entwerfen. Die Schüler schreiben im Verlauf der 20 Wochen drei Texte: ein Abstract zum Vorhaben, einen Fachartikel und eine abschließende Reflexion zum Lernprozess. Alle drei Texte werden benotet.
„In diesem Projekt wurde selten zu zweit und fast immer alleine gearbeitet. Die Fragestellungen waren zum Teil sehr persönlich“, berichtet Lisa Rosa. Der Computerraum wird zur stillen Werkstatt: Die Schüler sitzen vor ihren Rechnern, lesen, verarbeiten, schreiben. „Wenn das gut läuft, dann wollen die Schüler gar nicht aufhören. Die Schulklingel kann man dann vergessen! Der Lehrer muss aufpassen, dass das zeitlich passt.“
Überhaupt sieht Lisa Rosa gerade bei der selbständigen Arbeit den Lehrer in der Verantwortung. „Die Schüler müssen ja nicht nur undidaktisiertes Material zusammentragen und durchlesen. Wenn sie das noch nie vorher gemacht haben, weil ihnen alles immer schon zugeschnitten vorgesetzt wurde, dann können nicht von selbst wissen, wie sie Texte sinnvoll auswerten und wie sie Antworten auf ihre Fragen bekommen. Das muss man ihnen zeigen – entweder im Plenum oder einzeln im Coaching.“
Die Bedeutung des Plenums
„Je größer der Anteil der Einzelarbeit ist, desto mehr müssen wir darauf achten, dass es Zusammenarbeit gibt und dass am Ende ein gemeinsames Ergebnis da ist.“ Dafür hat Lisa Rosa im Projekt das „Zwischenstandsplenum“ vorgesehen. Die Schüler sind noch mitten im Arbeitsprozess und holen mal Luft und schauen sich an, wie weit ihre Vorhaben gediehen sind. Noch sind Korrektur und Umkehr aus Sackgassen gut möglich. Hier holt man sich neue Motivation und neue Aspekte für das eigene Thema. Es findet ein intensiver Austausch statt, sowohl zu inhaltlichen wie zu methodischen Fragen.
Allerdings muss es für Lisa Rosa nicht immer der Lehrer sein, der den Schülern Dinge erklärt. „Wir haben die Peer-Beratung eingeführt. Die Schüler haben sich im Plenum gegenseitig vorgestellt, was sie machen und gegebenenfalls auch ihre Probleme damit geäußert. Die anderen Schüler mussten sich da reindenken und reinfragen. Das ist ein gegenseitiges Lerncoaching. Wenn man den Schülern zeigt, wie das funktioniert, dann ist das wahre Kollaboration!“
Auch das gemeinsame Produkt am Ende ist wichtig. Zum Projektabschluss verwandelten die Schüler aus ihren Einzelaspekten ein Theaterstück zum Gegenstand Migration-Integration, das öffentlich aufgeführt und als Video im Blog veröffentlicht wurde. Anschließend mussten sie einem großen Publikum von Erwachsenen Rede und Antwort zum Gegenstand, zu ihren Positionen und zur Qualität ihres Stückes stehen.
Wirtschaftswachstums-Dilemma
Mit einem analogen Vorgehen haben Lisa Rosa und Max von Redecker auch das Thema Wirtschaftswachstums-Dilemma bearbeitet. An diesem Beispiel macht Lisa Rosas deutlich, dass es nicht unbedingt die Textform sein muss, die im Ergebnis dominiert. „Wir hatten hier eine enorme Vielfalt. Eine Schülerin hat ein eigenes Video-Blog ‚Selbstversuch vegan leben“ geführt, andere haben Raptexte geschrieben und aufgenommen, andere Comedyformen erprobt oder eben auch eine 17-seitige Facharbeit geschrieben.“
In diesem Projekt gibt es mündliche Noten für Kommentare zu den Artikeln von Mitschülern. Lisa Rosa kann von überraschenden Folgen berichten: „Ein Schüler, der unbedingt seine Note verbessern wollte, hat über die Osterferien 60 Artikel gelesen und kommentiert. Ich denke, das ist eine legitime Motivation. Solange es Noten gibt, müssen wir sie als Lernmotiv honorieren.“
Kulturzugangsgeräte ohne Schulfilter
Welche Rolle spielt das Internet beim Projektlernen? Ginge vieles davon nicht auch offline? Lisa Rosa: „Projektlernen geht grundsätzlich auch ohne digitale Medien. Aber vor allem Personalisierung und ‚Kollaborativisierung’ gehen nur mit Social Media! Man braucht ein offenes Netz für die Beschaffung von Ressourcen. Das Internet bietet nicht nur didaktisiertes und kleingehacktes Material, sondern alles, die echte Welt in ihrer ganzen Vielfalt!“
Und was braucht es dafür im Klassenraum? „Das ist eigentlich einfach,“, sagt Lisa Rosa. Es braucht einen Beamer, damit man gemeinsam Sachen anschauen und besprechen kann. Es braucht ein Kulturzugangsgerät, also Computer mit Internetzugang – und zwar für jeden einzelnen Schüler einen eigenen und ständigen Zugang, sonst kann er nicht wirklich personalisiert arbeiten. Und ganz wichtig für die Schulen: Es braucht einen ungefilterten Zugang. Unsere Projekte waren nur möglich, weil jemand den Schulfilter abstellen konnte. Mit den Standardeinstellungen in den Hamburger Schulen wäre die ganze Arbeit nicht möglich gewesen! Die Schüler müssen teilweise nach Hause gehen, um Bilder hochladen zu können. Oder man muss mit dem eigenen Smartphone einen Zugang schaffen, um überhaupt vernünftig arbeiten zu können. Diese Schulfilter sind die totale Entmündigung! Und sie bilden leider auch für die meisten Lehrer so hohe Verkomplizierungen ihrer eh schon komplizierten Arbeitsbedingungen, dass schon allein deswegen die meisten gar nicht erst ausprobieren wollen, mit den Social Media-Formen zu arbeiten.“
Dokumentation und Materialblog
Nicht nur die Blogprojekte der Schüler sind weiterhin online zu finden. Auch die parallelen Materialblogs zu den Projekten „Migration und Integration“ und „Wachstum“ stehen zur Verfügung. Die kompletten Blogs können als Steinbruch und Materiallager für eigene Projekte genutzt werden. Das Migration-Integration-Materialblog wurde außerdem anlässlich der Flüchtlingskrise aktualisiert und mit neuen Materialien ergänzt. Durchführung der Blogprojekte und Prinzipien der Projektmethode wurden in gedruckten Lehrerhandreichungen dokumentiert, die inzwischen in vierstelligen Auflagen nachgefragt wurden (vgl. Links im Infokasten).
Aufwand, Effektivität und Effizienz
Neue Wege, intensive Vorbereitung, Zusammenarbeit mit mehreren Lehrern, widrige Technologien – lohnt sich dieser Einsatz am Ende, Frau Rosa? „Ja, das ist ein großer Aufwand. Man muss das gut vorbereiten, ständig reflektieren und wach sein. Aber wenn man das erst einmal hat, dann hat man in der Schule viel mehr Zeit als in einem Unterricht, bei dem man jede Stunde vortanzen muss. Die Lernarbeit machen ja die Schüler.“ Lisa Rosa empfiehlt, es einfach auszuprobieren. Es gibt nur eine Einschränkung: „Das geht nicht, wenn man keine Freude daran hat. Aber es klappt! Der Unterricht macht sogar viel mehr Spaß. Und er ist nicht so erschöpfend, wie wenn man ständig selbst vortragen oder Disziplin einprügeln oder Schüler ‚aktivieren’ muss.“
Und was kommt am Ende dabei raus? „Das Projektlernen wie in den Blogprojekten ist keine ‚Effizienz-Methode’ – aber es ist unglaublich effektiv! Die Schüler erwerben alle möglichen Skills, die im 21. Jahrhundert zu den wesentlichen Lernzielen zählen. Und man erreicht gleichzeitig ein deep learning zum Gegenstand. Das ist kein Widerspruch! Es ist ein Vorurteil, dass man sich zwischen Soft Skills und Hard Skills als Lernziel entscheiden muss. Im Gegenteil! Man kriegt am besten beides zusammen. Dafür braucht es eine geschickte und kluge Lernorganisation. Projektlernen in Kombination mit digitalen Medien ist bisher das Beste, was ich dafür gefunden habe.“
Eckdaten zu Person und Schule
Name
Lisa Rosa
Fächer
Lehrerbildung; Geschichte, Politik
Schule
Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg
Aufgaben in der Schule
- –
Berufsbiograhie
- 20 Jahre Musik-, Politik-, Geschichtslehrerin an Gesamtschule (Westberlin) und Gymnasium (Hamburg)
- seit 2005 Unterrichtsentwicklung und Lehrerfortbildung in Hamburg
- Demokratie- und Projektlernen, Lernen in der Wissensgesellschaft, Lernen 2.0
- Zusammenarbeit mit diversen Hamburger Schulen und verschiedenen KollegInnen in ihrem Unterricht
Links
- Aufgabengebiet Demokratiepädagogik am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg: http://li.hamburg.de/demokratie
- shift. Weblog zu Schule und Gesellschaft – Blog von Lisa Rosa: http://shiftingschool.wordpress.com
- Blogwerkstatt von Lisa Rosa: http://lisarosa.wordpress.com
- Drei Projektblogs:
https://migrationintegration.wordpress.com
https://ewgprojektblog.wordpress.com
https://mehristweniger.wordpress.com
- Publikation „Integration ist für mich (k)eine Frage!“; Unterrichtsvorhaben zum Team „Migration – Integration“ http://li.hamburg.de/publikationen/3861046/artikel-integration-unterrichtsvorhaben/
Dieser Artikel (nur Text) steht unter der Lizenz CC BY SA 4.0. Als Autor soll Jöran Muuß-Merholz im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genannt werden.
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Immer neue Lernprojekte sind natürlich willkommen und man sollte immer neue Projekte machen bewegen um unsere Kreativität zu fordern. Neue Methoden sind der Schlüssel für eine gute Zukunft und Entwicklung. Es ist nicht einfach alle für diese neue Projekte zu begeistern aber es muss einfach sein. Ein guter Artikel!!!
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