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„Die Digitalisierung der Schule“ als doppelter Genitiv

Ein Text* über den Digitalisierungsschub in Schulen, die Lektionen aus der Coronakrise, die Orientierung an Nordsternen und die Frage, wer im digitalen Wandel eigentlich was gestalten kann.

Cover der Zeitschrift SchulVerwaltung Spezial 5.2021

Die Digitalisierung der Schule – wer gestaltet welche Veränderung?

ein Zwischenruf von Jöran Muuß-Merholz

Zwischen Schieben und Schubsen

Ein „Digitalisierungsschub“ haben Schulen in Deutschland durch die Coronakrise erfahren – diese Formulierung scheint Konsens, von der Bundesregierung bis zur Ortsbürgermeisterin, von Kongressen bis zum Elternabend. Es gibt inzwischen so viele laute Wortmeldungen zur „digitalen Schule“, dass wir mitunter übersehen: In der Praxis gibt es dazu gar kein gemeinsames Verständnis, geschweige denn einen Konsens. Manche Akteure im System Schule empfinden den „Digitalisierungsschub“ eher als „Digitalisierungsschubs“ – man schubst sie mit mangelhafter Infrastruktur, praxisferner Regulierung und dürftiger Vorbereitung in unbekannte Gewässer. Doch auch diese Diskussion verdeckt eine weitere, noch tiefer liegende Ebene. Denn man stelle sich einmal vor, dass Infrastruktur, Regulierung und Fortbildung keine Probleme (mehr) wären. Spätestens dann müsste man sich die Frage stelle: Wohin wird hier eigentlich geschoben bzw. geschubst? Was genau ist das überhaupt, was hier digitalisiert wird? Welche Richtung und welche Ziele verbinden wir mit der Digitalisierung? Und wer sind die entscheidenden Akteure – wer oder was also bestimmt, wohin es gehen soll?

Digitalisierung wirkt als mächtiger Verstärker

Durch digitale Medien verändern sich Lernen und Schulen nicht per se in eine bestimmte Richtung. Lernen wird durch digitale Medien nicht automatisch einfacher oder individueller oder effizienter oder unpersönlicher. Schulen werden durch digitale Medien nicht automatisch moderner oder demokratischer oder ökonomischer oder inklusiver. Es ist vielmehr so, dass digitale Medien als extrem mächtige Verstärker fungieren können. Sie verstärken nicht eine bestimmte Richtung, sondern in der jeweiligen Situation vorhandene Muster, Tendenzen, Ziele und Interesse.

Digitalisierung als mächtige Verstärker – das lässt sich vom Individuum bis zum Schulsystem durchdeklinieren, indem man jeweils die Möglichkeiten in einer prä-digitalen Ära und die Möglichkeiten in der vom digitalen Wandel geprägten Gegenwart vergleicht:

  • Wenn ich gerne lahm auf dem Sofa rumhänge, kann ich mit digitalen Medien noch besser lahm auf dem Sofa rumhängen.
  • Wenn ich gerne raus in die Welt gehe, Neues entdecke und mich mit anderen Menschen vernetze, kann ich mit digitalen Medien noch besser raus in die Welt gehen, Neues entdecken und mich mit anderen Menschen vernetzen.
  • Wenn ich anfällig bin für Bevormundung und Manipulation, kann ich mit digitalen Medien noch besser bevormundet und manipuliert werden.
  • Wenn ich gerne den Dingen auf den Grund gehe, nachforsche und nachfrage, kann ich mit digitalen Medien noch besser den Dingen auf den Grund gehen, nachforschen und nachfragen.
  • Wenn ich gerne einen Unterricht gestalte, in dem ich Aktivitäten streng strukturiere und engmaschig kontrolliere, kann ich mit digitalen Medien noch besser Unterricht mit strenger Struktur und engmaschiger Kontrolle umsetzen.
  • Wenn ich gerne einen Unterricht gestalte, in dem die Lernenden forschen, zusammenarbeiten und kreative Produkte erstellen, kann ich mit digitalen Medien einen solchen Unterricht noch besser gestalten.
  • Wenn ich als Lehrkraft bevorzugt jedes Schuljahr möglichst so wie das vorherige Schuljahr umsetze, kann ich mit digitalen Medien meinen Unterricht quasi kopieren.
  • Wenn ich als Lehrkraft gerne Neues erprobe, mich dazu mit anderen vernetze und austausche, kann ich mit digitalen Medien noch besser Neues erproben, mich vernetzen und austauschen.

Digitale Medien können also als Verstärker für ganz unterschiedliche Richtungen wirken. Von entscheidender Bedeutung ist: Das gilt auch dort, wo sich die Akteure über diese Richtungen gar nicht im Klaren sind bzw. sich nicht einmal Fragen nach der Richtung stellen. Dann wird das verstärkt, was implizit vorhanden ist oder von anderen Akteuren getrieben wird. Der „Digitalisierungsschub“ ist nicht neutral. Wer nicht nur getrieben, geschoben und geschubst werden will, muss sich Gedanken über die eigene Richtung machen – das gilt für uns als individuelle Menschen, für einzelne Schulen und das ganze Schulsystem, ja sogar für eine Gesellschaft.

Wir digitalisieren zuerst das, was sich am einfachsten digitalisieren lässt.

Im digitalen Wandel erleben wir eine Tendenz von Menschen und Institutionen, die nicht spezifisch für die Digitalisierung, aber nichtsdestotrotz sehr relevant ist: Wir digitalisieren zuerst das, was sich am einfachsten digitalisieren lässt, und nicht etwa das, was an bestimmten Zielen ausgerichtet am sinnvollsten wäre.

Auch diese Tendenz lässt sich vom Individuum bis zum Schulsystem anhand von Beispielen durchdeklinieren:

  • Für das Lernen ist es einfacher, sich kurze Erklärvideos anzuschauen als eigene Mitschriften in Form von datenbank-basierten, sozial vernetzten, auf Hypertext basierenden Strukturen zu führen.
  • Für das Lehren ist es einfacher, frontale Inputs und bunte Quizaufgaben zu digitalisieren als kollaboratives Projektlernen.
  • Für das Lernmanagement-System ist es einfacher, Lernen in Kurslogik mit Anfang und Ende abzubilden, als personalisiertes Lernen mit unterschiedlichen Zielen zu unterstützen.
  • Für Schulträger ist es einfacher, in digitale Wandtafeln zu investieren als in Fortbildung und Schulentwicklung.
  • Für die Schulpolitik ist es einfacher, die digitale Optimierung der vorhandenen Schule zu versprechen, als groß angelegte Umbrüche der Art und Weise, wie wir Schule verstehen.

Die Folgen sind so einfach wie massiv: Wir erleben in den Schulen eine Digitalisierung, in der bunte Quizaufgaben, Belehrungsvideos, Onlinekurse und digitale Wandtafeln häufiger vorkommen als kollaborative Projekte, personalisiertes Lernen und breit angelegte Schulentwicklung.

Aus der Coronakrise lernen heißt didaktische Ziele anzupassen

Wenn wir von einem Digitalisisierungsschub(s) ausgehen, müssen wir uns fragen, welche Ziele und welche Richtungen wir verfolgen und verstärken wollen. In einem vielfältigen Schulsystem werden die Antworten unterschiedlich ausfallen. Hier kommen einige Anregungen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Schule zu Coronazeiten hat didaktische Defizite sichtbar gemacht, die auch ohne Ausnahmesituation höchst relevant waren und bleiben. Aus diesen Erfahrungen lassen sich Ziele und Richtungen ableiten:

  • Wir stärken die Kompetenzen zum selbständigen Lernen. Wir streben danach, dass Schüler*innen nicht nur dann lernen, wenn Lehrer*innen ständig an ihrer Seite bzw. vor bzw. hinter ihnen stehen.
  • Wir stärken die vertiefte Auseinandersetzung mit Konzepten als Lernziele. Wir streben danach, dass es nicht in erster Linie um oberflächliches Reproduktionswissen geht, das nach der Prüfung vergessen ist, sondern um vertieftes Lernen, elaboriertes Verständnis und Möglichkeiten zum weitem Transfer des Gelernten.
  • Wir stärken das Lernen anhand eigener Interessen anstelle das Abarbeiten von vorgegebenen Aufgaben.
  • Wir stärken die individuelle Unterstützung, mit der wir jede Schülerin und jeden Schüler wahrnehmen und begleiten können. Wir kümmern uns insbesondere darum, dass wir in Schulen sozialen Spaltungen entgegenwirken.
  • Wir stärken produkt- und problemorientiertes, forschendes und ergebnisoffenes Lernen.
  • Wir bauen unsere Prüfungen so um, dass sie wirklich lernförderlich sind und dabei nicht das fachliche Wissen (academic achievements) zu lasten anderer Lernziele dominiert.

Die vorherige Liste umfasst Beispiele, über die man streiten kann. Andere Akteure werden andere Prioritäten setzen. Wichtig für den Kontext der Digitalisierung ist der folgende Umstand: Ziele wie diese sind nicht genuin mit digitalen Medien verbunden. Es handelt sich um didaktische Fragen, zu denen wir Lösungsansätze teilweise seit Generationen kennen und teilweise vollkommen unabhängig vom Medienwandel diskutieren. Durch den digitalen Wandel werden diese Fragen relevanter. Aber selbst wenn wir annehmen, dass sie nicht wichtiger werden, sondern nur gleich bedeutend bleiben würden, so stellen sie sich dennoch angesichts des digitalen Verstärkers in neuer Schärfe. Der digitale Wandel geht ans Eingemachte und stellt uns vor Grundsatzfragen: Welche Ziele, Inhalte und Formen des Lernens wollen wir angesichts des digitalen Wandels verstärken? Und was wollen wir möglichst nicht verstärkt erleben? Was für eine Schule wollen wir eigentlich?

Optimieren wir mit digitalen Mitteln die alte Schule?

Man muss vorsichtig sein, wenn man die Erfahrungen mit technologisch getriebenem Wandel aus anderen Teilen der Gesellschaft auf die Schule übertragen will. Wir können uns aber relativ sicher darin sein, dass die folgende Aussage des Zukunftsforschers Roy Amara auch für Schulen im digitalen Wandel zutrifft: Wir neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie auf kurze Sicht zu überschätzen und auf lange Sicht zu unterschätzen.

Die Digitalisierung wird auf lange Sicht starke Auswirkungen auf Schule haben. Und gegenwärtig entscheiden wir über die Richtung. Optimieren wir im 21. Jahrhundert die Schule, die im 19. Jahrhundert geprägt und im 20. Jahrhundert gefestigt wurde? Oder verbinden wir mit dem digitalen Wandel eine Neuausrichtung von Schule, in der nicht nur Lernformen, sondern auch unsere Bildungsziele und Lerninhalte auf den Prüfstand kommen.

Die Antworten sind kompliziert, wenn wir nicht nur alt gegen neu ausspielen wollen, sondern neue Ziele aushandeln und mehr über Vereinbarkeit von unterschiedlichen Zieldimensionen herausfinden wollen. Eine grundlegende Debatte ist notwendig, wenn wir nicht nur die alte Schule mit modernen Medien optimieren wollen.

Nordsterne helfen bei der Navigation im digitalen Wandel.

Gesellschaften, Organisationen und Menschen, die sich über ihre Grundlagen und ihre Ziele verständigt haben, können besser durch den digitalen Wandel navigieren und ihr eigenes Arbeiten sinnvoll gestalten. Wer Nordsterne hat, kann auch bei einer unsicheren, sich ständig verändernden Umwelt die Orientierung behalten und die eigenen Ziele weiter verfolgen.

Schulen, die über klare Profile und Leitbilder verfügen und diese mit Leben füllen, werden sich leichter tun bei der Beantwortung von Fragen wie: Was wollen wir mit der Digitalisierung verstärken – und was gerade nicht? Wohin wollen wir einen Schub und wo wollen wir keinen Schubs? Was digitalisieren wir zuerst, und welche alten und neuen Ziele wollen wir verfolgen?

Das ist übrigens keine „Pro-Digitalisierungs“-Angelegenheit. Auch das stereotypisch gedachte altsprachliche Gymnasium, in dem ein klarer Konsens über eindeutige Ziele wie theoretische Fundamente und inhaltlichen Kanon, Rhetorik und Handschrift, körperliche Ertüchtigung und musische Fächer, Ziele wie Konzentration, Ruhe, Achtsamkeit und Disziplin herrscht, wird sich mit dem digitalen Wandel leichter tun – und sei es, indem man ihn ignoriert, ablehnt oder sich ihm entgegenstellen will.

Der Wandel ist einfacher für Schulen, die solche Nordsterne haben, an denen sie sich auch dann orientieren können, wenn der Boden sich verschiebt und die Umwelt unsicher ist. Das sind Schulen, die sich zum Beispiel an einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), einem „Leitbild einer guten Schule“ (Schulverbund Blick über den Zaun) oder anderen Profilen ausrichten können. Auch an diesen Schulen wird viel gestritten – möglicherweise sogar überdurchschnittlich viel. Aber es ist eine fortgeschrittene Diskussion, die sich um die konkrete Ausgestaltung des Neuen dreht.

Gleichzeitig müssen die handelnden Akteure den digitalen Wandel verstehen. Es reicht nicht aus, Gewissheit über sich selbst zu haben, wenn die Umwelt sich verändert. Es braucht beides – klare Nordsterne für die eigene Arbeit und ein gutes Verständnis der Digitalisierung.

Digitalisierung darf keine isolierte, zusätzliche Baustelle sein.

Schulen und ihre Akteure empfinden sich in Deutschland ständig unter Druck. Sie erleben im Arbeitsalltag so viele Aufgaben als dringend, dass wichtige (aber nicht dringende) Fragen hintenüber fallen. Auf sie trifft eine Metapher zu, die im Change-Management beliebt ist: Eine Joggerin, die sich beim Laufen umziehen soll, steht vor einem grundlegenden Problem. Sie kann stehen bleiben und sich umziehen – aber sie soll ja weiterlaufen. Oder sie kann weiterlaufen, ohne sich umzuziehen – aber sie soll sich ja umziehen.

Wenn wir also von Schulen und ihren Akteuren verlangen, dass sie sich entsprechend bestimmter Zielsetzungen verändern UND gleichzeitig den digitalen Wandel vollziehen UND weiterhin jeden Tag handlungsfähig bleiben sollen, so haben wir es mit einer dreifachen Heraus- bzw. Überforderung zu tun. Das wird nur dort handhabbar werden, wo wir es schaffen, die Ebenen der anstehenden Veränderungen miteinander zu verbinden und nicht als zusätzliche, jeweils eigene Baustellen zu bearbeiten. Der digitale Wandel muss als Verstärker für vorhandene Ziele genutzt werden und darf nicht als doppelte und dreifache Belastung wahrgenommen werden. Dafür ist es notwendig, dass die grundsätzlichen Ziele feststehen bzw. ausgehandelt werden. Die Digitalisierung stellt Grundsatzfragen, die alle die beantworten müssen, die nicht in unklare Richtungen geschoben und geschubst werden wollen, sondern die selbst über Richtungen entscheiden und Entwicklungen gestalten wollen.

„Die Digitalisierung der Schule“ als doppelter Genitiv

In der Formulierung „die Digitalisierung der Schule“ liegt (frei nach Dirk Baecker) ein doppelter Genitiv. Die Schule kann als Objekt der Digitalisierung verstanden werden, quasi in einer passiven, den Entwicklungen ausgelieferten Position. Wenn wir die Formulierung aber als genitivus subjectivus verstehen, ist die Schule nicht Objekt, sondern die handelnde Akteurin, die die Digitalisierung als ihren Gegenstand wahrnimmt. Wir – als Gesellschaft, als Institution, als Individuum – müssen uns nicht nur fragen: „Was macht die Digitalisierung mit der Schule?“, sondern auch und erst Recht: „Was macht die Schule mit der Digitalisierung?“


*Dieser Artikel erschien in einer leicht überarbeiteten Fassung wie folgt:

Jöran Muuß-Merholz (2021): Die Digitalisierung der Schule – wer gestaltet welche Veränderung. In SchulVerwaltung Spezial (23), 5/2021 (S. 200-202)

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