Übernahme eines Podcasts und eines Kommentars von Jöran Muuß-Merholz auf pb21.de
„Digitale Didaktik”, was für ein toller Begriff! Schon die Alliteration ist schön. Und mehr noch: Es klingt nach schlüssigen Antworten auf die vielen großen Fragen, die sich für Lernen und Lehren angesichts des digitalen Wandels stellen. Kein Wunder, dass digitale Didaktik gefragt ist: Journalisten suchen sie, Aktivisten versprechen sie, Schulen werben mit ihr. Auf den zweiten Blick erkennt man allerdings mehr Zweifel als Gewissheiten. Und auf den dritten Blick ist die Rede von „digitaler Didaktik“ nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich.
Digital ist besser?
Technik ist weder gut noch böse; noch ist sie neutral (Melvin Kranzberg 1986). Das lässt sich auf die didaktische Frage übertragen. Lernen oder Unterrichten werden durch den Einsatz moderner Technologien nicht per se besser oder schlechter. Aber zweifellos verändern digitale Technologien Lernen und Unterrichten. Bestimmte Eigenschaften des Digitalen passen besonders gut zu bestimmten didaktischen Richtungen – aber nicht in eine bestimmte Richtung. Ein Lehr-Lern-Setting mit digitalen Materialien, digitalen Werkzeugen digitalen Kommunikationswegen kann didaktisch ganz unterschiedlich ausgerichtet sein.
In einem Extrem ermöglicht die Technologie hochgradige Kontrolle und Steuerung des Lernprozesses durch Lehrende. (Wobei man sich „Lehrende“ als Kombination von Personen und Programmen vorstellen muss.) Der Lernende folgt einem vorgegebenen Lernpfad, der in der Idealvorstellung für jeden individuell angepasst wird, noch während er beschritten wird. Digitale Technologie ermöglicht so die Umsetzung behavioristischer Didaktik in Reinform.
Im anderen Extrem liegt die Nutzung der Technologie in den Händen des Lernenden, der im Digitalen quasi ein Empowerment erfährt: Alle Mittel, Materialien und Mitlernenden stehen ihm offen. Lernende folgen nicht einem Lernweg – sie gestalten ihn selbst. Kein Wunder also, dass konstruktivistische Vertreter im digitalen Wandel größtes Potential für Lernen als aktiven, selbstgesteuerteren, kreativen, sozialen Prozess sehen.
Politische Bildung
Digitales kann verschiedene Formen der Didaktik optimieren, teilweise vielleicht auch erst ermöglichen.DIE digitale Didaktik gibt es nicht. Dieselbe digitale Technologie kann höchst unterschiedliche Didaktiken unterstützen.
Letztlich steht dahinter eine grundsätzliche Frage von Macht, also eine politische Frage: Wer – Lehrende oder Lernende – entscheidet über den konkreten Einsatz der digitalen Medien? Sind Lernende einem Prozess unterworfen oder haben sie selbst die Kontrolle? Die Frage nach der digitalenDidaktik ist eine politische Frage.
Das Beispiel Oskar von Miller Schule
Die Oskar-von-Miller Schule in Kassel hat ihre Didaktik radikal verändert (vgl. #pb21-Artikel dazu). Die moderne Didaktik heißt „Lernschrittkonzept“. Der Pädagoge Dietmar Johlen, der an ihrer Entwicklung maßgeblich beteiligt war, betont:
„Wir hatten zuerst das didaktische Ziel: Schüler sollten eigene Lernwege gehen können. Dafür wollten wir den Unterricht umbauen. An zweiter Stelle kamen die Medien ins Spiel, die uns ermöglichen sollten, unsere Ziele zu erreichen. Es ging aber nicht bei den Medien los – sondern bei den didaktischen Zielen!“
Wenn man sich die Umsetzung des Konzeptes ansieht, erkennt man den hohen Stellenwert von digitalen Materialien, digitalen Werkzeugen, digitalen Plattformen. Doch obwohl das Digitale allgegenwärtig ist, ist es nicht der Kern des Didaktischen. Die Schülerin Charis Pape wird im Interview gefragt, wie viele Schüler bei der täglichen Arbeit einen Bildschirm vor sich haben. Sie scheint die Frage kaum zu verstehen und die Antwort für selbstverständlich zu halten: „Na, alle!” Die digitalen Medien sind nicht das Zentrum, sie stehen nicht im Mittelpunkt der Didaktik. Gleichzeitig ist eine Umsetzung dieser Didaktik ohne digitale Medien schwer vorstellbar. Das Digitale ist quasi die Grundlage, die von den Beteiligten für selbstverständlich gehalten wird – und gerade dadurch in den Hintergrund rückt.
Alte Didaktik mit modernen Medien
Die Debatte darf nicht von der Technologie ausgehen, sondern von der Didaktik! Das klingt banal. Aber im Alltag ist es häufig umgekehrt – und die Rede von digitaler Didaktik fördert genau das. Man stellt das Digitale an den Anfang, nicht nur sprachlich. Damit werden die grundsätzlichen Fragen verschleiert, etwa ob mithilfe digitaler Medien zum Beispiel eine auf Aktivierung orientierte oder eine auf Kontrolle orientierte Didaktik umgesetzt wird.
Viele Schulen starten 2014 mit ihrer eigenen Digitalisierung. Und auch die Politik entdeckt das Thema (wieder). Fast allerorten stehen die Geräte am Anfang – die Konzepte sollen dann daran angepasst werden, so wie im neuen Modellversuch „Start in die nächste Generation“ in Hamburg. Bezeichnungen wie „Deutschlands modernste Schule“ (Selbstbezeichnung Schloss Neubeuern) orientieren sich an Technik, nicht an Didaktik. Moderne Technologien machen noch keine moderne Schule. Im Gegenteil: Wenn es schlecht läuft, dann optimiert und zementiert die Digitalisierung alte Didaktik.
Dieser Artikel steht unter der CC-by-Lizenz (mehr dazu). Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: CC-by-Lizenz, Autor: Jöran Muuß-Merholz für pb21.de. |