Übersetzung und Nachwort von Jöran Muuß-Merholz
Die deutsche Version von Education for the Age of AI von Charles Fadel, Alexis Black, Robbie Taylor, Janet Slesinski und Katie Dunn ist Anfang 2025 erschienen. Von Jöran Muuß-Merholz kommen die Übersetzung und ein Nachwort, das wir unten im Volltext veröffentlichen.
Das Buch ist Nachfolger, Update und Erweiterung zum Buch Die vier Dimensionen der Bildung, zu dem ZLL21 e.V. und die Agentur J&K schon im Jahr 2017 die deutsche Ausgabe besorgten.
Das Buch: Bildung für das Zeitalter von KI
- Original: Education for the Age of AI von Charles Fadel, Alexis Black, Robbie Taylor, Janet Slesinski und Katie Dunn
- Übersetzung ins Deutsche und Nachwort: Jöran Muuß-Merholz
- erschienen bei ZLL21 – der Verlag als nicht-kommerzielle Veröffentlichung
- Vertrieb via amazon: E-Book (PDF-Format, in Farbe) für 2,99 Euro | Print-Version (s/w) für 10,69 Euro
„Bildung im Zeitalter von KI ist eine beeindruckende und fantastische Reise in unsere neue Welt der dynamischen Komplexität und der Nuancen in der Bildung, dargestellt in kristallklaren Kapiteln, die nur von Menschen geschrieben worden sein können. Es bietet eine Bildungsreise voller Erschütterung und ultimativer Ehrfurcht, die die Leser*innen in einen Zustand von Aufregung und Furcht vor dem, was vor uns liegen mag, versetzt. Es macht deutlich, dass individuelle und kollektive Agency für die nächste Phase unserer Existenz unabdingbar sind. Wo soll man anfangen? Das liegt in der Verantwortung der Leser*innen. Aber wir müssen damit anfangen, mit diesem fabelhaften Buch.“
– Dr. Michael Fullan, OC, Prof. Emeritus, OISE/Universität von Toronto
Der Hase-Ente-Kopf der pädagogischen KI-Diskussionen
Ein Nachwort zur Debatte in Deutschland. Von Jöran Muuß-Merholz
Charles Fadel, Alexis Black, Robbie Taylor, Janet Slesinski und Katie Dunn haben mit diesem Buch eine sehr hilfreiche Grundlage und einen verlässlichen Rahmen für die Debatte um KI und Bildung geliefert, die weltweit geführt wird. Auf den folgenden Seiten möchte ich einen kurzen Blick auf die deutschsprachige Debatte werfen.
Olli-Pekka Heinonen schreibt im Vorwort: „Die Kernfrage, die sich durch den gesamten Text zieht, lautet: Was bedeutet es, in der heutigen Welt ein Mensch zu sein? KI wird als ein Spiegel beschrieben, der vor uns steht und uns zurückwirft, wer wir sind.“ Diese Ausrichtung scheint mir besonders interessant für die Debatte in Deutschland zu sein, wo man sowohl in Sachen KI als auch in Sachen Bildung gerne zu Grundsatzdiskussionen neigt. Das ist manchmal anstrengend, vor allem wenn damit die unausgesprochene Position verbunden ist: „Solange wir die Grundlagen und Grundsätze nicht abschließend geklärt haben, sollten wir besser keine Veränderungen angehen. Erst die Klärung, dann die Veränderung!“ Gleichzeitig steckt eine große Chance darin, wenn wir den KI-getriebenen Handlungsbedarf gleichzeitig mit grundsätzlichen Fragen bearbeiten. Dann kann jede Debatte, die von einer KI-Frage angestoßen wird, auch Antworten auf die Frage „Welche Bildung wollen wir?“ beinhalten.
KI-getriebene Fragen in der Bildung
Ich habe im Laufe des Jahres 2024 eine kleine Liste mit Fragen gesammelt, die mir in der Debatte um KI und Bildung häufig so oder ähnlich begegnet sind. Die Liste hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder eine bestimmte Ordnung. Es sind einfach Blitzlichter aus dem Herbst 2024.
- Wieso muss ich die Übungen selbst machen, wenn ich einfach die KI fragen kann?
- Braucht es mich als Lehrkraft noch, wenn die KI alle Erklärungen, Feedback und Bewertungen übernimmt?
- Wenn alle Schüler*innen mit individualisierten Lernprogrammen am Computer arbeiten, können sie das nicht auch zu Hause machen?
- Müssen wir jetzt „KI-Kompetenzen“ anstelle der alten Kulturtechniken vermitteln? Sind Lesen, Schreiben und Rechnen überhaupt noch wichtig?
- Müssen wir unsere Curricula komplett auf „Future Skills“ und Kompetenzorientierung umstellen?
- Haben Frontalunterricht und Schulbuch nun endgültig ausgedient?
- Wie unterbinden und kontrollieren wir, dass bei Hausaufgaben und Prüfungen keine KI-Tools genutzt werden?
- KI ist nicht wirklich intelligent, oder?
- KI kann nicht wirklich kreativ sein, oder?
- Wofür brauchen wir noch Zeugnisse und Abschlüsse, die Fähigkeiten dokumentieren, die schnell veralten?
- Wie können wir verhindern, dass Bildungseinrichtungen durch KI in ihren Fundamenten erschüttert werden?
Diese Fragen sind berechtigt und nicht einfach zu beantworten. Und sie haben Potential für mehr, worauf ich später zurückkommen möchte. Davor will ich ein Bild erklären, das auf das Jahr 1892 zurückgeht und uns heute als Allegorie dienen kann.
Ein Kippbild
Die folgende Abbildung erschien am 23. Oktober 1892 in „Fliegende Blätter“, einer humoristischen deutschen Wochenschrift. Der Künstler ist unbekannt. Es handelt es sich um ein Kippbild, in dem man zwei unterschiedliche Tiere erkennen kann.

Es ist charakteristisch für Kippbilder wie dieses, dass der Mensch zwei verschiedene Dinge darin sehen kann, aber immer nur eines davon zur selben Zeit. In diesem Fall ist es ein Hasenkopf (mit den Ohren nach rechts) oder ein Entenkopf (mit dem Schnabel nach links).
Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein brachte die Kippfigur des Hasen-Enten-Kopfes mit einem grundsätzlichen Denkansatz zusammen: Wir Menschen können in dieser Figur „einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. […] Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“ „Die folgende Figur […] wird in meinen Bemerkungen H-E-Kopf heißen. Man kann ihn als Hasenkopf oder als Entenkopf sehen. Und ich muss zwischen dem ‚stetigen Sehen‘ eines Aspekts und dem ‚Aufleuchten‘ eines Aspekts unterscheiden.“ (1)
Die Kippfragen der KI-Debatte
Wir können uns bewusst entscheiden, jede KI-getriebene und akute Frage auf ihr Kippbild hin zu untersuchen und die mit ihr verbundene pädagogische und grundsätzliche Frage zu formulieren. Jede Frage nach einer konkreten Reaktion auf den technologischen Wandel können wir als „Kippfrage“ umdeuten und anders sehen: als Frage nach unseren Paradigmen und Prinzipien, nach den Zielen und Inhalten, nach dem WHAT und dem WHY der Bildung. Die oben aufgeführte Aufzählung von KI-getriebenen, akuten Fragen steht in der folgenden Liste noch einmal. Dieses Mal habe ich zu jeder Frage in der Spalte rechts daneben eine weitere Frage ergänzt, die nach der Logik des Kippbildes dieselbe Frage umdeutet, als pädagogisch begründete und grundsätzliche Frage. Diese Liste mit „Kippfragen“ umfasst quasi einmal den Hasenkopf und einmal den Entenkopf der Diskussionen um KI und Bildung.
KI-getriebene, akute Fragen | Pädagogisch begründete, grundsätzliche Fragen |
---|---|
Wieso muss ich die Übungen selbst machen, wenn ich einfach die KI fragen kann? | Wieso muss ich etwas lernen, was Maschinen besser können? |
Braucht es mich als Lehrkraft noch, wenn die KI alle Erklärungen, Feedback und Bewertungen übernimmt? | Warum ist meine Aufgabe als menschliche Lehrperson wichtig? |
Wenn alle Schüler*innen mit individualisierten Lernprogrammen am Computer arbeiten, können sie das nicht auch zu Hause machen? | Wofür treffen wir uns zu festen Zeiten in festen Häusern? |
Müssen wir jetzt „KI-Kompetenzen“ anstelle der alten Kulturtechniken vermitteln? Sind Lesen, Schreiben und Rechnen überhaupt noch wichtig? | Was macht das Wesen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen aus? |
Müssen wir unsere Curricula komplett auf „Future Skills“ und Kompetenzorientierung umstellen? | Welche Bildungsziele und Inhalte sind wichtig? |
Haben Frontalunterricht und Schulbuch nun endgültig ausgedient? | Welche Formen des Lernens und Lehrens sind zukunftsgerecht? |
Wie unterbinden und kontrollieren wir, dass bei Hausaufgaben und Prüfungen keine KI-Tools genutzt werden? | Wie gestalten wir Aufgaben und Prüfungen in einer lernförderlichen Weise? |
KI ist nicht wirklich intelligent, oder? | Was bedeutet eigentlich ‚Intelligenz‘? |
KI kann nicht wirklich kreativ sein, oder? | Was bedeutet eigentlich ‚Kreativität‘? |
Wofür brauchen wir noch Zeugnisse und Abschlüsse, die Fähigkeiten dokumentieren, die schnell veralten? | Worauf kommt es in Zukunft im Berufsleben an? Was braucht „die Wirtschaft“? |
Wie können wir verhindern, dass Bildungseinrichtungen durch KI in ihren Fundamenten erschüttert werden? | Wie gestalten wir Transformationsprozesse von Bildungseinrichtungen? |
Pädagogisch begründete Antworten auf KI-Fragen
Wie in einem Kippbild gibt es auch bei Kippfragen nicht eine falsche und eine richtige Seite. Es handelt sich um dieselben Dinge, die wir jeweils unterschiedlich deuten und entsprechend unterschiedlich sehen können. Aus der tagesaktuellen Dringlichkeit heraus sehen wir in der Regel zuerst die KI-getriebenen Fragen. Wir können uns aber entscheiden, dabei auch die Fragen zu sehen, die darin „‚aufleuchten“, wie Wittgenstein sagen würde. Diese Fragen sind dann nicht in der Technik, sondern in der Pädagogik begründet. Sie sind nicht durch Tagesaktualität getrieben, sondern im Grundsätzlichen verankert. Es sind Fragen, die so oder ähnlich nicht neu, sondern im Gegenteil teils Jahrhunderte alt sein können. Es sind häufig anstrengende Fragen, deren Beantwortung sich aber lohnt, weil sie längerfristig haltbar sind und wir unsere Debatte ein Stück weit von aktuellen Technologietrends emanzipieren können.
Pädagogik und Technik
Wir behaupten in deutschsprachigen Debatten gerne, dass Pädagogik Vorrang vor der Technik haben sollte. Der Ausgangspunkt aktueller Debatten ist aber häufig die Technik, ob man das mag oder nicht. Der Wechsel zwischen den beschriebenen zwei Perspektiven kann uns helfen, der Verwobenheit von Technik und Pädagogik so komplex zu begegnen, wie es der Gegenstand verlangt. Darin liegt die Chance, dass wir den falschen Antagonismus von Pädagogik und Technik auflösen. Technik ist in KI-Debatten in der Regel Ausgangspunkt der Fragen – und gleichzeitig Teil der Antworten auf gesellschaftliche und pädagogische Fragen. Diese Fragen sind nicht neu – im Gegenteil: Es handelt sich um so alte und grundsätzliche Fragen, dass wir sie bisweilen als selbstverständlich behandelt haben. Die Antworten sind teils verschüttet, teils lange nicht mehr thematisiert, geschweige denn aktualisiert worden. Nun werden die alten Fragen wieder sichtbar. Sie blitzen auf, würde Wittgenstein sagen. Die Debatte um KI hält uns einen Spiegel vor: Jede Frage nach Technik fordert gleichzeitig Antworten auf die Frage: „Welche Bildung wollen wir eigentlich?“ Wir müssen an Antworten arbeiten, um gute Bildung verstehen und gestalten zu können.
Fußnote
(1) „Eine Kippfigur wie den Hasen-Enten-Kopf können wir ‚einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.‘ (Wittgenstein 1984, 519) Um dies zu verdeutlichen unterscheidet Wittgenstein zwei Begriffe des Sehens: ‚Und ich muß zwischen dem ‚stetigen Sehen’ eines Aspekts und dem ‚Aufleuchten’ eines Aspekts unterscheiden.‘ (Wittgenstein 1984, 520)“
Zitiert aus: Andrea Anna Reichenberger (2011/2013): Wie wir Kippfiguren sehen können. In: The Wittgenstein Archives at the University of Bergen (WAB). https://wab.uib.no/agora/alws/reichenberger2004.html. Abgerufen am 3.12.2024.