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Future Skills: Wie digitale Zusammenarbeit in der Bildung gelingt

Ein „Standpunkt“-Beitrag von Jöran Muuß-Merholz für Bildung.Table # 294 vom 13. Dezember 2024

Der Bildungsbereich, insbesondere die Schule, hat ein seltsames Verhältnis zum Thema Zusammenarbeit, geprägt von grundsätzlichen Widersprüchen und Unklarheiten. Einerseits gilt Zusammenarbeit als herausragend wichtig und wird manchmal fast wie eine moralische Frage behandelt – andererseits leben wir diese Zusammenarbeit wenig und an zentralen Stellen verbieten wir sie sogar. Einerseits halten wir Zusammenarbeit für Teil der „Future Skills“ oder der „21st Century Skills“ – andererseits wissen wir wenig darüber, wie Zusammenarbeit prinzipiell und praktisch funktioniert. Einerseits verbinden wir Zusammenarbeit mit einer „Kultur der Digitalität“ – andererseits gestalten wir mit digitalen Medien vor allem individualisierte Arbeitsformen. Einerseits verlangen wir Zusammenarbeit von den Lernenden – andererseits haben wir als Erwachsene das System Schule nach dem Prinzip „Alleinearbeiten“ organisiert.

Jöran Muuß-Merholz bei der Vorstellung seines Buchs „Digitale Zusammenarbeit 4.0“ | Foto von Christoph Nagel

„Du sollst zusammenarbeiten!“

Weder in der Bildung noch in der Arbeitswelt wird der Stellenwert von Zusammenarbeit grundsätzlich gering geschätzt. Im Gegenteil: Bisweilen wirken Verlautbarungen von Bildungsplänen bis zu Stellenanzeigen so, als wäre Zusammenarbeit ein Wert für sich, fast schon eine moralische Verpflichtung. Die Praxis sieht an vielen Orten anders aus. In der Schule ist Zusammenarbeit sowohl bei den erwachsenen Lehrkräften als auch bei den Lernenden die Ausnahme von der Regel. Für die Lernenden verbieten und bestrafen wir Zusammenarbeit an zentralen Stellen. Für die Erwachsenen sind weder Zeiten noch Orte für Zusammenarbeit vorgesehen. Nicht selten reklamieren Lehrkräfte unter dem Schild der pädagogischen Freiheit ihre Autonomie. Zusammenarbeit und Arbeitsteilung erfordern Zeiten, Räume und eine Autonomieeinschränkungsbereitschaft, die in der Schule nicht gegeben sind.

Zusammenarbeit als Future Skill

Auf der Ebene der Bildungsziele wird Zusammenarbeit als Teil von „Future Skills“ (von McKinsey bis zur UNESCO) oder der 4Ks als „21st Century Skills“ gesehen, häufig unter dem Begriff „Kollaboration“ und meist unter den Vorzeichen der digitalen Transformation. Am Beispiel der 4Ks lässt sich veranschaulichen, wie unterbelichtet das Thema Zusammenarbeit ist, wenn wir hinter die großen Schlagworte blicken: Über drei der vier Ks haben wir nicht erst seit dem 21. Jahrhundert ein solides Wissen. Wir wissen, dass Kreativität immer auf bestehendes Wissen aufbaut und nicht vom Himmel fällt (Brandt & Eagleman 2017). Wir wissen, dass kritisches Denken eine Denk- und Arbeitsweise mit festgelegten Prinzipien darstellt und nicht nur so etwas wie eine „Haltung“ ist (von Dewey bis Facione). Und über Kommunikation haben wir nicht zuletzt anlässlich der digitalen Transformation viel debattiert und gelernt. Doch zum Thema Zusammenarbeit, zumal unter digitalen Vorzeichen, ist das Fundament dünn. Im pädagogischen Bereich haben wir mehr Wissen über Zusammenarbeit als Lernmethode als über die grundsätzlichen Prinzipien und Praktiken von Kollaboration.

Digital-individualisiert

Einen ähnlichen blinden Fleck, mitten im Scheinwerferlicht, finden wir in der Rede von einer „Kultur der Digitalität“ nach Stalder, dessen Konzept inzwischen in seltenem Konsens von Bloggerinnen bis Kultusministerkonferenz referenziert wird. Dabei werden jedoch selten mehr als nur einzelne Schlagworte aufgeworfen. Die drei Eigenschaften der Kultur der Digitalität bei Stalder – Referentialität, Gemeinschaftlichkeit, Algorithmizität – werden häufig auf „Es braucht mehr digitale Zusammenarbeit!“ vereinfacht. Das muss, nur weil es oft vereinfacht erscheint, dennoch nicht falsch sein. Es bleibt jedoch auch hier eine Art „gefühltes Wissen“, dass das Thema Zusammenarbeit zwar irgendwie wichtig, aber gleichzeitig unterbelichtet ist. Hinzu kommt, dass jenseits einzelner Ausnahmen digitale Medien für das Lernen eher für Individualisierung denn für Verbindungen eingesetzt werden.

Digitale (Zusammen-)Arbeitswelt

Werfen wir einen Blick in die gegenwärtige Arbeitswelt von Erwachsenen: Egal ob wir in einer Schule oder einem Ministerium, einer Redaktion oder einem Nobelpreis-Labor, in einer Bank oder einer NGO arbeiten: Spätestens mit der digitalen Vernetzung von Informationen und Kommunikation hat das Thema Zusammenarbeit in der Arbeitswelt einen herausragenden Stellenwert. Allerdings finden wir dort, wo Zusammenarbeit und Digitalisierung diskutiert werden, zwei ausgeprägte Extreme mit sehr viel leerem Raum dazwischen. An dem einen Ende der Skala finden wir paradigmatische Ausrufungen und allerlei große Worte. Da wird eine „Kultur des Teilens“ gefordert, „Teamwork makes the Dream work“ propagiert und Zusammenarbeit als tragende Säule eines Paradigmenwechsels definiert. Im anderen Extrem finden wir sehr konkrete Methoden (inzwischen gerne „Hacks“ genannt): „111 Tipps und Tricks für Office 365“, „25 neue Methoden für agile Zusammenarbeit“ oder „Neun neue Teamhacks für agile und digitale Kollaboration“.

Was verändert die digitale Transformation?

Zwischen den großen Superlativen und kleinen Anleitungen fehlt im großen Mittelfeld die Substanz. Wir wissen zu wenig über Prinzipien und Praktiken zur Gestaltung von digitaler Zusammenarbeit. Was ist anders an digitaler Zusammenarbeit? Wie gestalten wir das Spannungsfeld zwischen Zusammenarbeit und Arbeitsteilung? Was ist der Unterschied zwischen Kooperation und Kollaboration? Wie verhalten sich Koordination und Kommunikation dazu? Wie organisieren wir digitale Dokumente, gemeinsame Kalender und ein asynchrones ToDo-Management so, dass insgesamt weniger statt mehr Aufwand entsteht? Zu solchen Fragen ist unser Wissen erstaunlich dünn.

In meinem Team haben wir in den letzten Jahren dieses Wissen gesammelt, sortiert und in einem Buch aufgeschrieben (siehe unten). Viele Dinge klingen banal – sind aber enorm folgenreich. Im papier-zentrierten Zeitalter stand ein Ordner mit Materialien in einem Regal – und wer darauf zugreifen und daran arbeiten wollte, musste Zugriff zum Regal haben. Wenn ich dann etwas aus dem Ordner entnommen habe, war dieser Inhalt in der Zeit für andere nicht verfügbar. Dadurch war quasi automatisch geklärt, wer in der Zusammenarbeit gerade für etwas zuständig war: immer dier Person, bei dem das Papier war. Im digitalen Zeitalter dagegen sind Inhalte in der Cloud immer und für alle verfügbar – und zwar auch zur gleichzeitigen Bearbeitung. Und die Kommunikation dazu kann technisch ohne Zeitverzug stattfinden. Unter diesen Bedingungen müssen Zuständigkeiten und Verantwortungen, Absprachen und Arbeitsteilungen neu konfiguriert werden. Die Zusammenarbeit bedarf einer ganz anderen Art der Koordination, um Fehlern und Frustrationen, Lücken und Doppelungen vorzubeugen.

Mit digitaler Zusammenarbeit geht auch einher, dass es viel mehr Vereinheitlichung, Absprachen und Standards braucht. Wenn drei Personen mit denselben Dateien arbeiten, dann ist es hilfreich, wenn sie sich auf gemeinsame Ordnungen, Namen und Verfahren einigen. Das alles wird noch spannender, weil mit der künstlichen Intelligenz der Computer allmählich eine aktivere Rolle in der Zusammenarbeit bekommt und mitgedacht werden muss.

Alleinearbeiten als Standard der Schule

Es herrscht also ein seltsames Spannungsfeld rund um das Thema Zusammenarbeit, das durch die digitale Transformation sichtbarer und drängender wird. Möglicherweise liegt die besondere Ausprägung der Widersprüchlichkeiten im Bildungsbereich darin begründet, dass gerade Schule eine Organisation ist, in der Zusammenarbeit eher trotz und nicht aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen stattfindet. Unsere Gesellschaft hat Schule so erfunden und geformt, dass Alleinearbeit der Standard und Zusammenarbeit die Ausnahme ist. Das gilt sowohl auf Seite der Schüler*innen als auch bei den Erwachsenen.

Handwerk des Teilens

Angesichts der großen Herausforderungen in Gesellschaft und Schule sind wir dringend auf bessere Zusammenarbeit angewiesen. Zweifelsohne brauchen wir eine „Kultur des Teilens“. Aber sie kommt nicht alleine über Appelle und Tool-Trainings. Eine „Kultur des Teilens“ braucht ein „Handwerk des Teilens“, bestehend aus einem gemeinsamen Wissen über die Prinzipien und geteilten Standards über die Praktiken von (digitaler) Zusammenarbeit. Wenn wir Erwachsene das besser verstehen und gestalten lernen, können wir es auch den Schüler*innen vorleben und beibringen.

Jöran Muuß-Merholz ist Diplom-Pädagoge mit Schwerpunkt auf Innovationen im Bereich Lernen, Arbeiten und Technologie. Er ist Co-Geschäftsführer der Agentur „J&K – Jöran und Konsorten“, die als Think-and-Do-Tank nicht nur an zukunftsorientierten Themen arbeitet, sondern auch zeitgemäße Arbeitsformen erforscht und praktiziert.

Im November 2024 veröffentlichte Jöran Muuß-Merholz mit seinem Team einen Management-Ratgeber zum Thema Zusammenarbeit als Doppelband:
Digitale Zusammenarbeit 4.0 – die Gebrauchsanleitung!
Wie Teams vernetztes, kollaboratives und asynchrones Arbeiten geregelt kriegen
Band 1: Prinzipien | Band 2: Praktiken
Jöran Muuß-Merholz | ZLL21 e.V. – der Verlag | 2024

Auf der Website the-way-we-work.de gibt es Informationen zum Buch, einen Newsletter sowie Zugang zu einer LinkedIn-Community zum Thema „Digitale Zusammenarbeit“.

Cover der im Text erwähnten zwei Bücher