Franziska Carl im Gespräch mit Jöran Muuß-Merholz
Erschienen im Februar 2024 im Friedrich Jahresheft Nr. 2024 / 0 Krise
Franziska Carl (FC): Das Thema „Digitalisierung“ ist ein aktuelles Thema im Kontext von Schule und Unterricht – ein „neues“ Thema ist es aber eigentlich nicht. Wann hat die Thematisierung begonnen?
Jöran Muuß-Merholz (JMM): Man kann die Geschichte von Digitalisierung und Schule von Anfang an als Geschichte von Krisen erzählen. Der SPIEGEL hat mal aufgeregt auf seinen Titel geschrieben: „Revolution im Unterricht. Computer wird Pflicht!“ Im Artikel wurde dann die Situation in Deutschlands Schulen wie folgt beschrieben: „Von einer neuen Bildungskrise ist die Rede, die zu schnellem Handeln zwinge, und von ‘technischen Analphabeten’, die auch unter Deutschlands Abiturienten überwögen. Dem Umgang mit dem Computer wird sogar gleicher Rang wie dem Lesen Schreiben und Rechnen gegeben: Zu diesen drei herkömmlichen ‘Kulturtechniken’ komme nun diese neue, vierte.“ Zitat Ende. Diese Ausgabe des Spiegels stammt aus dem Jahr 1984 – feiert also bald 40. Jahrestag.
FC: Wie hat sich die Frage bis heute verändert? Lassen sich „Phasen“ oder „Wellen“ unterscheiden?
JMM: Da war zum Beispiel die Initiative „Schulen ans Netz“, gegründet von BMBF und Telekom im Jahr 1996 mit dem Ziel, alle Schulen ans Internet anzuschließen. Das hat die allermeisten Akteure in Schulen aber nicht betroffen – sie haben es schlicht gar nicht bemerkt und sich nicht dafür interessiert. In den Folgejahren gab es einen Hype um sogenannte „Neue Medien“ und „Multimedia“, für die man Lehrmittel auf das Format CD-ROM umbaute. Eine große Hoffnung lag auf digitalen Nachschlagewerken – aber niemand sah damals Wikipedia voraus. Das war auch eine Zeit, als sich die Schulverlage blutige Nasen holten, als sie mit wohl nicht unerheblichen Investitionen solche digitalen Produkte entwickelten – die dann aber niemand kaufte. Es fehlte nicht nur an Budgets für den Einkauf, sondern auch an Geräten in den Schulen und an vorbereiteten Lehrkräften, um diese Produkte überhaupt einzusetzen. Wenn ich die Verlage durch eine psychoanalytische Brille anschaue, würde ich spekulieren: Damals wurden die Verlage durch diese Ablehnung so tief gekränkt, dass sie bis heute ein gespaltenes Verhältnis zur Digitalisierung haben und darin eher eine Dauerkrise und weniger die Chancen wahrgenommen haben.
FC: Wie wurde die Digitalisierung in den Schulen selbst, aus organisatorischer und aus pädagogischer Sicht wahrgenommen?
JMM: In den 2010er Jahren begannen immer mehr Menschen, das Internet nicht nur als Nachschlagewerk zu verstehen, sondern auch hinein zu schreiben. In meiner Wahrnehmung lief für viele Schulen der erste ernsthafte Kontakt mit dem Internet nicht über geplantes und beabsichtigtes Handeln, sondern über Krisensituationen, in denen Lehrkräfte und Schulen sich als Opfer wahrnahmen. Da schrieben nun irgendwelche Menschen im Internet über konkrete Schulen – und zwar häufig nichts Gutes. Da wurden Lehrkräfte auf einschlägigen Portalen bewertet und kritisiert. Dann tauchten Videos auf, die Lehrkräfte in unvorteilhaften Situationen zeigten, bloßstellten oder verunglimpften.
Als das passierte, zeigte sich die digitale Vernetzung für Schulen krisenhaft in Form eines enormen Kontrollverlustes. In meiner Wahrnehmung war das an vielen Orten zunächst gar nicht in erster Linie eine pädagogische Frage, sondern vor allem eine Krise von Macht, Autorität, Normen und Kontrolle. Entsprechende Ereignisse wurden oft als „Zwischenfälle“ eingestuft – also als Krise im Sinne einer Ausnahme von der Regel.
FC: Gab es auch einen konstruktiven Umgang mit dem Kontrollverlust?
JMM: Es gab und gibt zwei Perspektiven, mit denen wir den Kontrollverlust der Lehrkräfte und der Institution Schule betrachten können. Perspektive A: Wir versuchen, die Krise zu überwinden und die Kontrolle zurückzugewinnen. Wir verbieten und beschränken die Nutzung digitaler Medien. Wir kontrollieren diese Regulierung. Also noch mehr Kontrolle, um ein Mindestmaß an Kontrolle zu wahren. Perspektive B: Wir sehen die Chancen im Kontrollverlust. Wir wollen ja zumindest auf lange Sicht, dass Lernende die Schule verlassen und selbständig mit digitalen Medien umgehen können, ohne dass dafür eine ständige Kontrolle notwendig wäre. Der Kontrollverlust der Lehrenden ist potenziell eine Emanzipation der Lernenden. Das entscheidende Wort in dem vorherigen Satz ist „potenziell“ – denn das passiert natürlich nicht alleine. Man muss auf der Ebene von Rollenbildern, Verantwortungen und anhand konkreter Praxis daran arbeiten.
FC: Gab es auch allgemein eine Krise auf der Ebene von Lehren und Lernen?
JMM: Es gab verschiedene Zugänge zum Thema. Eine Ebene war die neue Verfügbarkeit von Informationen für die Schüler:innen, die bisher gar nicht oder nur mit großem Aufwand zugänglich waren. Damit wurde das weitgehende Monopol der Lehrkraft als „Wissensträgerin“ abgelöst bzw. bekam zunächst mal Konkurrenz.
Dann gab es einen starken Zweig in der Entwicklung von digitalen Angeboten für Lehren und Lernen. Das sehe ich aber eher als evolutionäre Sache, nicht als Krise oder Revolution. Möglicherweise ist es sogar eine Konterrevolution, aber das ist ein anderes Gespräch …
FC: Gab es in pädagogischer Hinsicht nicht auch große Hoffnungen?
JMM: Weil es bisher kaum wissenschaftliche Ansätze für eine „Geschichte der digitalen Bildung“ gibt, erzähle ich das mal bewusst subjektiv, als meine Geschichte. Nicht weil das die wichtigste wäre, sondern weil ich die am besten kenne. Ich habe in den Nuller Jahren den Einzug von digitalen Medien in die Bildung als große Chance für einen pädagogischen Wandel wahrgenommen. Damals gab es eine Metapher, die man auch als Krise lesen kann: das Bild des Trojanisches Pferds. Die Idee: Wenn digitale Medien Einzug in die Bildung nehmen, würden sich quasi ‘darin verborgen’ grundsätzliche neue Möglichkeiten für das Lernen ergeben, selbst wenn man das gar nicht beabsichtigt hätte. Schon bei sehr frühen Forschungsarbeiten konnte man so etwas beobachten. Als Heike Schaumburg 1999 die ersten Laptopklassen in Gütersloh evaluierte, kam beispielsweise heraus, dass ungeplanterweise die 45-Minuten-Taktung, also eine schulische Grundkonstante in Frage gestellt wurde. Ende der Nuller-Jahre entstanden einige Graswurzel-Aktivitäten, beispielsweise Barcamps wie die EduCamps ab 2008 oder ein Treffen im Jahr 2009 namens „Die Bildung hacken. Neues Lernen zwischen Schule und Google“. 2010 co-kuratierte ich einen Schwerpunkt auf der Digital-Konferenz re:publica. Damals wurden unter der Überschrift „Shift happens“ Beispiele vorgestellt, wo Schüler:innen mit Blogs und Wikis arbeiteten und dabei Wissen nicht nur konsumierten, sondern co-konstruktiv und co-kreativ agierten. Das war anschlussfähig, insbesondere an reformpädagogische und konstruktivistische Ideen. Wir erhofften uns in unseren Filterblasen also, dass die Digitalisierung quasi ein Katalysator für eine Transformation sein würde – eine Krise, die konstruktiv gewendet würde.
FC: Geriet diese Euphorie dann selbst in die Krise?
JMM: In der Tat. Rückblickend muss man ganz klar sagen, dass solche Aktivitäten in der Praxis immer nur von einzelnen Personen, nie von den Institutionen getragen wurden. Wir hatten die Stabilität des Systems Schule unterschätzt. An vielen Stellen wurde die von uns unterstellte große Krise, die die traditionellen Verständnisse von Lehren und Lernen untergraben könnte, nicht einmal wahr-, geschweige denn ernst genommen.
FC: Wenn digitale Medien für die Schulen kein „Trojanisches Pferd“ und kein „Katalysator“ sind, was sind sie dann?
JMM: Sie können Trojanische Pferde oder Katalysator sein, aber das ist kein Automatismus. Es ist nicht so: Man gießt digitale Medien in die Schulen herein, und dann verändert sich alles wie in einer Nährlösung zugunsten einer fortschrittlichen Pädagogik. Vielmehr haben wir die Erfahrungen gemacht, dass digitale Medien als mächtige Verstärker fungieren können. Digitalisierung verstärkt vorhandene Muster, vorhandene Interessen, vorhandene Tendenzen. Man kann mit digitalen Medien eine Didaktik verstärken, die auf kreatives und kollaboratives Arbeiten, auf personalisiertes und produktorientiertes Lernen ausgerichtet ist. Digitale Medien können aber auch genauso gut als Verstärker für einen Unterricht dienen, der stark auf Struktur und Kontrolle ausgerichtet ist.
FC: Machen wir einen Sprung nach vorne. Welche Rolle spielte die Corona-Pandemie?
JMM: Corona war quasi die Mega-Krise für Schulen im Hinblick auf Digitalisierung. Vorher waren gerne und ausführlich prinzipielle Überlegungen und Pro- und Contra-Abwägungen diskutiert worden. Viele Akteure verhielten sich sehr zurückhaltend. Nun waren digitale Medien plötzlich gesetzt. Von einem Tag auf den anderen mussten digitale Medien sehr praktisch und sehr grundlegend akzeptiert und genutzt werden. Es wird ja gerne von einem „Digitalisierungsschub“ gesprochen. Man darf aber nicht übersehen, dass viele Akteure das weniger als „Schub“ im Sinne von „Antrieb“ sondern mehr als „Schubsen“ empfunden haben. Digitalisierung war während Corona für viele Akteure nicht Teil der Lösung, sondern Teil der Krise.
FC: Ist „Krise“ denn immer nur Bedrohung?
JMM: Der Soziologe Dirk Baecker spricht (im Anschluss an Niklas Luhmann) mit Blick auf die Digitalisierung von einer „Katastrophe“ für die Gesellschaft. Ich verstehe seine Verwendung des Wortes „Katastrophe“ im ursprünglichen Sinne von „Umkehr“ oder „Wendung“, also als einen grundlegenden Wandel auf Systemebene. Normalerweise können wir solche Veränderungen erst mit etwas Abstand wahrnehmen. Aber beim Fernunterricht wurde einiges sofort sehr deutlich sichtbar. Es gab und gibt zwar nach dem Ende der Corona-Maßnahmen sehr schnell eine Rückkehr zum vermeintlichen Normalzustand. (Das zeigt noch einmal, wie unglaublich stabil das System Schule ist.) In der alltäglichen Praxis empfindet man in der Gegenwart also die „Katastrophe“ nicht als akute Krise. Dennoch gibt es ein Empfinden, vielleicht gar nicht immer bewusst, dass da etwas ins Wanken geraten ist und wir uns auch im Hinblick auf einen epochalen Medienumbruch in der Krise befinden. Das Wort „Krise“ hat ja im ursprünglichen Sinne eine Ähnlichkeit zu „Katastrophe“, also ein Moment, in dem sich etwas wendet. Durch das Erleben von ChatGPT ist das dann noch einmal verstärkt worden.
FC: Welche Krisen sehen wir in der Gegenwart – gibt es gerade eine „KI-Krise“?
JMM: Anhand von ChatGPT konnten sich plötzlich viel mehr Menschen vorstellen, wie groß die technologischen Umbrüche sind und in der Zukunft noch sein werden. Die Verbreitung von KI-Technologien stellt viele Arbeitsbereiche, auch in der Bildung, vor sehr grundsätzliche Fragen. Hier sind ein paar davon: Wie gestalten wir Prüfungen neu? Wofür braucht es mich als menschliche Lehrkraft noch? Warum muss ein Mensch auch Dinge lernen, die eine Maschine besser erledigen kann? Was bedeutet eigentlich „Intelligenz“? Welche Kompetenzen braucht es für eine Zukunft mit intelligenten Maschinen? Welche Formen des Lernens und Lehrens sind dafür angemessen?
Das sind ja alles keine technischen Punkte oder Detailfragen. Bei KI-Diskussionen geht es oft ans Eingemachte, weil sie die Grundlagen unseres Handelns betreffen, teilweise sogar die Identität der Akteure. Man könnte sagen: „KI“ steht für viele Akteure hinsichtlich ihrer Arbeit für „Krise der Identität“. Das sind also im Wortsinne „kritische“ Fragen, die uns noch eine Weile beschäftigen werden.
FC: Was bedeutet das für die Auseinandersetzung von Schulen mit Digitalisierung?
JMM: Häufig wird gefragt: „Wie verändern sich Schule und Lernen durch die Digitalisierung?“ Meine Standard-Antwort ist: Schulen und Lernen verändern nicht SICH – als würde die Veränderung vom Himmel fallen oder aus dem Nichts entstehen. Die Frage muss anders gestellt werden: „Wie verändern WIR Schulen und Lernen durch die Digitalisierung?“ Schulen, also die Menschen in und um Schule, müssen sich als aktiv handelnde Akteure verstehen, die ihr eigenes Handeln unter den Bedingungen der Digitalisierung gestalten können. Eine Krise ist nicht nur ein Ergebnis von Veränderungen, sondern auch eine Notwendigkeit bzw. eine Möglichkeit für weitere Veränderungen – und die gilt es bewusst und aktiv zu gestalten.
FC: In welche Richtungen können Veränderungen gehen?
JMM: Ich komme nochmal auf meine These zurück, dass digitale Medien als mächtige Verstärker wirken können. Wenn ein Mensch gerne lahm auf dem Sofa hängt, kann er mit digitalen Medien noch besser („besser“ im Sinne von „verstärkt“) lahm auf dem Sofa rumhängen. Wenn ein Mensch gerne raus in die Welt geht und Neues erkundet, kann er mit digitalen Medien noch besser raus gehen und Neues erkunden. Wenn jemand anfällig für Manipulation und Bevormundung ist, dann kann er oder sie mit digitalen Medien noch besser manipuliert und bevormundet werden. Wenn jemand gerne den Dingen auf den Grund geht und selbständig mehr über diese Dinge herauskriegen will, kann er oder sie genau das mit digitalen Medien verstärkt tun. Wenn jemand Unterricht mit Fokus auf starke Strukturen und engmaschige Kontrolle macht, kann er oder sie genau das mit digitalen Medien verstärken. Wenn andererseits Menschen Unterricht mit Fokus auf kreative Produkte, Selbständigkeit und Zusammenarbeit gestalten, dann können sie auch genau diese Ausrichtung verstärken.
Das heißt, dass wir mit digitalen Medien die Verfolgung unserer Ziele, Interessen und Werte verstärken können. Damit wir der Digitalisierung nicht als passive Opfer ausgeliefert sind, müssen wir uns dieser Ziele, Interessen und Werte bewusst und einigermaßen einig sein. Dafür braucht es Prozesse von Selbstverständigung und Austausch sowie gemeinsame Antworten auf die Frage: Was wollen wir mit digitalen Medien verstärken – was nicht?
FC: Wie sehen solche Verständigungsprozesse aus?
JMM: Das sind Prozesse, die für die Schulentwicklung nicht grundsätzlich neu sind, zum Beispiel Zukunftswerkstätten, die Neuausrichtung von Profilen oder auch die Orientierung an externen Vorgaben. Man könnte ja meinen, dass die vielen akuten Baustellen von Schulen dazu führen würden, dass man sich auf das konkrete Handeln fokussiert. Nach meiner Beobachtung passiert aber das Gegenteil: Das Bedürfnis nach grundsätzlicher Verständigung und Ausrichtung ist größer geworden. Und das ist gut so! Denn je mehr wir den Alltag als Krise, als Unsicherheit und als ständige Veränderung wahrnehmen, desto wichtiger sind klare Nordsterne, an denen wir unser Handeln und unsere Entscheidungen ausrichten können.
Wir können da inzwischen glücklicherweise auf viel Erfahrung aufbauen. Was ich mir noch zusätzlich wünschen würde: Diese Verständigungsprozesse brauchen mehr Kontinuität. Natürlich kann man eine Schule nicht alle paar Monate komplett neu ausrichten. Aber umgekehrt reicht es heute nicht mehr aus, alle 10 Jahre das Schulprogramm auf den Prüfstand zu stellen und anzupassen. Es braucht eine gute Mischung aus verlässlichem Fundament und laufendem Gespräch über die Ausdeutung und Anpassung, weil sich die Welt rundherum eben schnell, umfassend, komplex und unvorhersehbar ändert.
FC: Was hilft, um mit der Dauerkrise Digitalisierung in Schulen umzugehen?
JMM: Die größte noch wenig genutzte „Wunderwaffe“ ist für mich das Thema Zusammenarbeit in Schulen. In komplexen Organisationen haben wir über die Zeit immer mehr Professionalisierung im Sinne von Arbeitsteilung plus Zusammenarbeit gesehen. Also: unterschiedliche Professionen, Spezialisierungen, Schwerpunkte, Aufteilung, Absprachen, Aushandlungen etc. etc. In Schulen ist in dieser Hinsicht noch viel Luft nach oben. Wir haben Schule für Stabilität erfunden. Und wir haben den Modus von Arbeiten in der Schule als Alleine-Arbeiten definiert. Beides funktioniert nicht mehr – und wir sehen auf beiden Ebenen sehr viel Bewegung.
Die gute Nachricht lautet: Digitale Medien sind auch ein sehr guter Verstärker für Zusammenarbeit, für Arbeitsteilung, für Lerngemeinschaften – und genau das brauchen auch die Erwachsenen in der Bildung gerade dringend!
FC: Was könnte Lehrpersonen und Schulen im Umgang mit der Dauerkrise „Digitalisierung“ unterstützen?
JMM: Zwei ganz wesentliche Grundlagen sind schon lange bekannt, aber nicht annähernd ausreichend umgesetzt: 1. Ausstattung und 2. Schulungen. So wie in jeder anderen Organisation, in der Hunderte von Menschen mit digitalen Geräten arbeiten, muss das großangelegt und auf professionellem Niveau stattfinden. Es ist ermüdend, das immer wieder einfordern zu müssen. Aber es hilft nichts – da muss viel mehr passieren.
Gleichzeitig gilt: Die schwierigen Bedingungen an vielen Schulen sind kein Grund, sich nicht schon heute mit den grundlegenden Fragen zu beschäftigen: die Neugestaltung von Aufgaben- und Prüfungsformaten, der Rollenwandel der Lehrkraft, eine inklusive digitale Bildung, die Neuausrichtung von Lernzielen, der Paradigmenwechsel vom lehrseitigen auf lernseitiges Denken – das sind alles drängende Fragen, die die Digitalisierung enorm verstärkt.
FC: Wenn Schulungen unterstützend sein können, wie müssten diese aussehen? An einem Mangel an Angeboten liegt es ja nicht, oder?
JMM: Schule in der Krise braucht einen neuen Fortbildungsmodus, ein neues „Lernen der Lehrenden“. Die Formate, die wir für Fortbildung und Schulentwicklung aus dem 20. Jahrhundert kennen, reichen nicht aus. Das liegt daran, dass diese Formate für eine Schule im Modus der Stabilität erfunden wurden. Wir brauchen aber jetzt zusätzliche Formate für Schule im Modus der Krise oder konstruktiver gesagt: für Schule im ständigen Wandel.
Die großen Fragen haben eine gemeinsame Eigenschaft: Es gibt keine fertigen, abgeschlossenen Antworten und keine ausformulierten Rezepte, die wir nur für die Schulen aufbereiten und „ausrollen“ müssten. Ich nenne das: „Arbeiten und Lernen im Herausfindemodus“. Schule und die Akteure, die dort arbeiten, müssen vieles neu lernen, Lösungen finden und erfinden, entdecken und gestalten. Dazu braucht es ein neues Lernen der Erwachsenen, der Lehrenden. Es ist nicht so, dass es das noch gar nicht geben würde. Spätestens während Corona wurde sehr sichtbar, dass schon heute nicht mehr darauf gewartet wird, dass die richtige Fortbildung vom Himmel fällt. Ich würde sogar sagen: In allen Schulen haben die Akteure ihr Lernen in die eigenen Hände genommen.
FC: Gibt es jenseits von Ausstattung und Fortbildungen noch weitere Unterstützungsformen?
JMM: Ich neige nicht dazu, KMK-Papiere als Motivationshilfen zu nutzen. Aber in diesem Fall ist es so! Das KMK-Papier „Lernen und Lehren in der digitalen Welt“ wurde Ende 2021 veröffentlicht, kurz vor Weihnachten – und es wurde kaum bemerkt. Dabei ist das Papier eine hilfreiche Unterstützung für alle, die wirklich Veränderung wollen. In dem Papier ist außerdem 15 mal von „Zusammenarbeit“ und 14 mal von „Kollaboration“ die Rede – das Stichwort Zusammenarbeit hatten wir vorhin schon. Hier wird eine „Kultur des Teilens“ explizit als Teil pädagogischer Professionalität definiert. Auch viele andere wichtige Themen wie die Veränderungen der Aufgaben- und Prüfungsformate werden dort angesprochen.
Ich frage bei meinen Vorträgen in letzter Zeit, wer in der Schulpraxis das KMK-Papier kennt. Es sind in der Regel zwischen 0 und 3 Prozent. Dennoch: Alleine die Existenz des Papiers ist aus meiner Sicht hilfreich. Denn wer bisher in der Schule groß angelegte Veränderungen in dem Bereich einforderte, war eher in einer Außenseiter-Position. Heute ist man vielleicht immer noch Außenseiter:in – aber Außenseiter:in mit einem KMK-Papier im Rücken!
FC: Zeit für ein Fazit: Welche Sorgen und welche Hoffnungen können wir mit solchen Krisen für die Schule verbinden?
JMM: Die Sorgen werden ziemlich häufig benannt. Deswegen möchte ich die Hoffnungen hervorheben. Die Krisenhaftigkeit von Digitalisierung und KI kann zu Grundsatz-Debatten führen, also zu Verständigungsprozessen über die gemeinsamen Fundamente. Es geht nicht nur um das Know How, sondern auch um das Know Why. Es geht in Bezug auf Lernen und Lehren nicht nur um Methoden und Werkzeuge, sondern auch um das Was, das Wozu und das Warum – quasi eine mögliche Rückbesinnung auf Grundfragen der Didaktik (siehe auch der Beitrag von Leineweber in diesem Heft; Anm. der Redaktion). Angesichts der Veränderungen in der Welt auf der einen Seite und der Stabilität des Systems Schule auf der anderen Seite kann es hilfreich sein, eine Krise als Ausgangspunkt für Selbstvergewisserung und Neugestaltung zu nehmen. Für mich persönlich verbinde ich damit die Hoffnung, dass wir angesichts der digitalen Transformation der Gesellschaft nicht nur über veränderte Formen von Lernen und Lehren sprechen, sondern auch über veränderte Inhalte und Ziele von Bildung.