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Neue Medien (im Parallel-Universum)

Stellen Sie sich bitte eine Welt vor, in der die Geschichte der Medien anders verlaufen ist. Zwar sieht es dort im Wesentlichen aus wie in der uns bekannten Welt. Alle gängigen Medien sind vorhanden, insbesondere die vernetzten Computerspiele vom Handcomputer Nintendo DS über Apples ipod touch bis zur Spielekonsole Wii, vor der die Spieler akrobatische Körperbewegungen vollziehen. Nur die Erfindung des Buchs fehlte in der bisherigen Geschichte, bis 2011 jemand auf die Idee kam, Buchstaben auf Papier zu drucken und die Papiere zu Büchern zusammen zu binden. Eine Welt, in der Computerspiele vor Büchern kamen. Was würden wohl die Pädagogen, die Feuilletonisten oder die Eltern der Kinder sagen, die hinter diesem neumodischen „Buch“ verschwinden? Das neue Medium würde vermutlich harsche Kritiken ernten: Das Lesen unterfordert die Sinne. Die Leser sitzen mit starrem Blick vor dem Papier anstatt sich in einer lebendigen, dreidimensionalen Welt zu bewegen. Sie stieren auf das monotone Schwarz-Weiß, auf dem sich nichts bewegt. Sie hören nichts, können nichts anfassen außer das dünne Papier. Nicht nur die Sinne, auch der Körper verkümmert beim Lesen, denn die Leser verharren teils stundenlang unbeweglich in der gleichen Position. Häufig hört man von geradezu buchsüchtigen Jugendlichen, die jeden Tag mehr als 90 Minuten mit dem neuen Medium verbingen, anstatt draußen zu spielen, sich mit Freunden zu treffen oder Sport zu treiben. Anstatt etwas mit dem ganzen Körper zu machen und mit komplexen Bewegungen etwas im Spiel zu steuern, sitzen die Spieler da und bewegen nur gelegentlich ein paar Gramm Papier von rechts nach links. Als wäre das noch nicht schlimm genug, leiden auch die sozialen Kontakte unter der Vielleserei. Lesen isoliert den Menschen von anderen, denn man sitzt oder liegt dabei in der Regel alleine im stillen Kämmerlein anstatt etwas gemeinsam mit anderen zu machen. Und schließlich: die Demokratie! Was lernt denn der Bürger beim Lesen implizit mit? Die Unmündigkeit! Denn die Leser müssen sich in Büchern einer klar vorgegebenen Struktur unterwerfern, anstatt sich in einer belebten, dreidimensionalen Welt zu bewegen. Anstatt sich selber zu orientieren und die Umgebung aktiv zu gestalten, lehrt das Buch vor allem: dem zu folgen, was man vorgegeben findet.

Dieses Gedankenexperiment (nach einer Idee von Steven Johnson 2005) soll zeigen, dass es nicht selbstverständlich ist, welche Titel die Rubrik „Erziehungsratgeber Medien“ im Buchhandel beherrschen: „Nur ein Mausklick bis zum Grauen“, „Hilfe, mein Kind hängt im Netz“, „Verblöden unsere Kinder?“, „Abschalten. Das Anti-Medien-Buch“, „Mit einem Klick zum nächsten Kick“, „Handyknatsch, Internetfieber, Medienflut“, „Was tun? So kommt mein Kind vom Bildschirm los!“ oder einfach pauschal „Vorsicht Bildschirm!“

Viele Schwierigkeiten im Umgang mit den Neuen Medien, mit Computerspielen und Web 2.0 sind eher dem Umstand geschuldet, dass sie „neu“ sind. Oder einer recht selektiven Wahrnehmung, denn offensichtlich sind nicht alle Menschen, die sich in elektronischen Welten häufig und gerne bewegen, gleich auch dick, dumm oder aggressiv. Niemand möchte die Abschaffung von Kühlschränken, nur weil darin ja auch ungesundes Essen oder sogar Drogen aufbewahrt werden können. Keiner fordert ein (Jugend-)Verbot von Briefpost, obwohl darin auch Erpressungsschreiben und wüste Beschimpfungen transportiert werden können. Und auch die Stadt Hamburg ist nach wie vor ein beliebter Ort, gleichwohl hier alle nur denkbaren Übel zu finden sind: Pornos und Pädophile, Nazis und Narzissmus, Betrüger und Betrunkene, Gewalt und Grauen, Terroristen und Tierquäler.

All das findet man im Internet, keine Frage. Auch ist unzweifelhaft, dass die genannten Probleme ernsthafte sind und gesellschaftlicher Antworten bedürfen. Doch die Debatte hat Schlagseite. Für eine differenziertere Auseinandersetzung will dieser Text zwei zusätzliche Perspektiven bieten: Eine grundlegende Klärung dessen, was eigentlich „neu“ ist an den „Neuen Medien“, insbesondere an Web 2.0 oder Social Media. Zweitens sollen die Chancen, die freundlichen Orte der elektronischen Welt zumindest plakativ skizziert werden. Diese Darstellung soll also nicht den bisherigen Diskurs ersetzen, sondern ergänzende Sichtweisen einbringen.


Dies ist der Anfang eines Essays, den Jöran für ein Buch der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung eV (BKE) und des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) geschrieben hat. Das Buch soll im Frühjahr 2011 erscheinen. Details folgen an dieser Stelle.

4 Gedanken zu „Neue Medien (im Parallel-Universum)“

  1. Als das Buch aufkam, sagte ein politisch engagierter Dichter das hier:

    http://riecken.de/index.php/2010/09/das-bose-bose-internet/

    Die Kultur war darauf ausgerichtet, Informationen vorwiegend mündlich zu verbreiten. Die mündliche Verbreitung von Informationen ging bis zum heutigen Tage nicht verloren wie wahrscheinlich auch das Buch noch lange Zeit seine Daseinsberechtigung behalten wird. Die Gutenachtgeschichte auf dem iPhone vorzulesen – nunja… Kann man sich gleich noch vor den Ethanolkamin setzen.

    Das Buch hat sich nicht durchgesetzt, weil Mündlichkeit dauernd schlechtgeredet (wie es beim Buch im Web2.0 zunehmend Mode zu werden scheint) worden ist, sondern weil es irgendwie Sinn machte und weil sehr viele Menschen etwas daraus *ge*macht haben.

    Deswegen finde ich deinen „medialen Differenzansatz“ nicht tragend. Zudem führst du in deinem Gedankenexperiment eine medienevolutionäre Vorstufe in einen Gegenwartskontext ein. Das passt für mich auch nicht.

    Wenn die neuen Medien etwas taugen und breit angenommen werden sollen, muss man von Benutzen zum Nutzen kommen. Kritisiert und fokussiert wird von der Öffentlichkeit doch gerade das „Benutzen“, also der Konsum, weil das Nutzen zu wenig präsent bzw. bewusst ist.

    Also müssen wir etwas zeigen, was man mit diesem neuen „Buch“ so machen kann.

    Just my two cents…

    Maik

  2. Das Gedankenexperiment ist gut. Man braucht jedoch nur in die Geschichte des Menschen zu schauen und findet Ähnliches in stetiger Wiederholung.

    Es ist wohl etwas zutiefst Menschliches, den Wandel zu fürchten, und es ist in der menschlichen Geschichte wohl schon immer so gewesen. Wandel erzeugt Unsicherheit, da Gewohntes in Frage gestellt wird, vor allem, wenn der Wandel sich in wahrnehmbar großer Geschwindigkeit vollzieht.
    Wandel bestimmt unsere Leben fortwährend, wir werden älter, Kinder wachsen, ein Haus wird abbezahlt, ein Tunnel durch einen Berg gegraben, nach sieben Jahren ein neues Auto gekauft, das ein wenig besser als das vorhergehende ist und leicht anders gestylt ist. Das alles läuft jedoch über längere Zeiträume mit graduellen Veränderungen ab, die eben deswegen nicht als bedrohlich eingeschätzt werden.
    Der Medienwandel, obgleich er schon seit Jahren im Gange ist, vollzog sich für viele Mitglieder der Gesellschaft an der Peripherie ihrer Wahrnehmung. Er berührter ihren Lebenskreis nur wenig, oft gar nicht. Jetzt aber hat der Wandel ein Moment entwickelt und erreicht eine gesellschaftliche Breite, der sich niemand mehr wirklich entziehen kann. Was die Geeks als kontinuierlichen Wandel erlebt haben und erleben, bricht über viele Leute jetzt mit einer unvermittelten Macht herein. Das ist für diese Menschen verständlicherweise mehr als beängstigend.

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