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Das Ende der Institutionen wie wir sie kannten …

Ein Text von Jöran über das Internet als Partizipationsraum einer vernetzten Gesellschaft, erschienen (auf Papier) in der Zeitschrift EB – Erwachsenenbildung 04/2010, die sich dem Schwerpunkthema „Netzwerke“ widmet.

Bildung für Außerirdische

Bildung … Wollte man sie einem Außerirdischen beschreiben, sollte man bei ihren Idealen beginnen. Sie will, dass alle Menschen sich selbstbestimmt ein Bild von der Welt machen können. Mit ihrer Unterstützung sollen sich die Menschen Hintergrundwissen erschließen, kritisch reflektieren und selbständig eine Meinung bilden. Sie findet, dass möglichst jeder Einzelne aktiv etwas zum großen Ganzen beitragen sollte. Zumindest können sollte. Die Ideen der Aufklärung findet sie immer noch gut. Ihre Zielgruppe: alle Menschen. Kopfzerbrechen macht ihr, dass sie diejenigen am besten erreicht, die sie vielleicht am wenigsten brauchen. Deswegen sucht sie nach niedrigschwelligen Möglichkeiten des Zugangs auch für breitere Schichten. In der praktischen Arbeit ist Text ihr bevorzugtes Medium. Aber eigentlich wünscht sie sich mehr Vielfalt in ihren Formen, würde auch gerne mehr mit Bildern, Videos oder Audios arbeiten. Eines ihrer obersten Gebote lautet: umstrittene Sachverhalte müssen auch als kontrovers dargestellt werden! Ein anderes: Komplexität muss zunächst so reduziert werden, dass ein Einstieg in das Thema möglich ist. Anschließend kommen bei Bedarf Vertiefung und Erweiterung. Ihre Akteure streiten gerne untereinander. Meist kriegt der Rest der Welt das nicht mit und wenn doch, dann versteht er die Diskussion nicht. Überhaupt fühlt sie sich oft gar nicht gut verstanden …

[Bitte ersetzen Sie am Anfang dieses Abschnittes das Wort „Bildung“ durch „Wikipedia“.]

Netzwelt und Bildung für Außerirdische

Die Wikipedia darf als größtes Beispiel an dieser Stelle stellvertretend für viele andere Netzwerke stehen, die im Internet neue Formen der Zusammenarbeit hervorbringen: dezentral, hierarchiearm, unüberschaubar, (vermeintlich) chaotisch. Und offensichtlich mit beeindruckenden Ergebnissen.

Obwohl die Welt der Bildung und die Welt des Internets augenscheinlich viele Kompatibilitäten aufweisen, haben sie sich überraschend wenig zu sagen. Berührungsstellen oder gar Schnittmengen sind eher die Ausnahme als die Regel. Bisweilen bekommt man sogar den Eindruck, die Bildungswelt hätte eine besondere Vorliebe für die dunkle Seite des Internets, wenn man PädagogInnen über das Netz reden hört: Pornos und Pädophile, Nazis und Narzissmus, Datenspione und Spionagedaten, Betrüger und Betrunkene, Gewalt und Grauen, Terroristen und Tierquäler sind die vorherrschenden Themen im pädagogischen Diskurs.

Werfen wir einen Blick auf die andere Seite des Internets, in dem Menschen sich zusammenfinden, sich in gesellschaftlichen Fragen engagieren, Ihr Wissen teilen, miteinander und voneinander lernen, untereinander streiten und die Ideen der Aufklärung immer noch ziemlich gut finden.

Web 2.0 als Welt des Teilens und Vernetzens
Oder: Die Revolution kam im zweiten Anlauf

YouTube, Facebook, die VZ- und andere Soziale Netzwerke, Twitter, Flickr, Geocaching … Die wichtigsten Websites des Internets sind erst wenige Jahre alt. Zusammen mit unzählbaren Blogs und Podcasts werden sie unter dem Oberbegriff Web 2.0 oder Social Media gefasst. Diese Schlagworte beschreiben die grundsätzliche Gegenüberstellung zu einem „Web 1.0“, bei dem noch klar war: Auf der einen Seite gibt es einige Produzenten, die Inhalte in die Welt senden, und auf der anderen Seite sitzen die empfangenden Konsumentenmassen. Noch stärker wird diese Abgrenzung, wenn man Web 2.0 auch traditionellen Medien wie Zeitung oder Fernsehen gegenüber stellt, vgl. Tabelle 1.

Web 1.0 / traditionelle Medien Web 2.0 / Social Media
Inhalte kommen aus einer Zentrale, von einer Redaktion oder einem Autor. Inhalte kommen von den Nutzern selber, von einer Community.
Der Nutzer ist Konsument: Ich schaue ins Internet (bzw. in die Zeitung oder in den Fernseher). Der Nutzer ist Konsument und Produzent gleichzeitig (Prosument): Ich veröffentliche Inhalte im Netz.
Hohe Hürden für das Publizieren: Für das Veröffentlichen brauche ich spezielle Kompetenzen oder Spezialisten, eine technische Infrastruktur und Geld. Niedrige Hürden für das Publizieren: Für das Veröffentlichen brauche ich kaum Geld, kaum spezielles Wissen, keine eigene Infrastruktur.
Veröffentlichung und Kommunikation verlaufen eher langsam. Veröffentlichung und Kommunikation verlaufen sehr schnell. Für Inhalte bedeutet das mehr Aktualität und Flexibilität. Und: mehr Masse.
Inhalte sind in Ordnungen vorsortiert. Es gibt z.B. Rubriken, Kategorien oder sogar Linearität mit Anfang und Ende. Inhalte stehen in Chaos nebeneinander. Ordnung wird z.B. über Schlagworte oder Beziehungen geschaffen. Es gibt keine Linearität, kein Anfang / Ende.
Inhalte werden für mich vorausgewählt. Der Filter, was ich rezipiere, liegt v.a. beim Sender. Ich muss als Empfänger selber den Filter definieren, was ich rezipiere und was nicht.
Push-Medium: Der Sender bestimmt, wann und wie die Kommunikation startet. Pull-Medium: Der Empfänger bestimmt, wann und wie die Kommunikation startet.
Die Vermittlung von Information steht im Vordergrund. Die Kommunikation ist eine Einbahnstraße. Austausch und Dialog stehen im Vordergrund. Die Kommunikation ist eine große Konversation.
Wissen ist Macht. Geschäftsmodelle beruhen auf der Verknappung von Inhalten. Wer viel Wissen weitergibt, schmälert die eigene Macht. Teilen ist Macht. Social Media funktioniert, wenn viele Menschen viele Inhalte miteinander teilen. Share ist der wichtigste Begriff des Web 2.0.
Isolierung: Medien oder einzelne Angebote stehen eher unverbunden nebeneinander. Verknüpfung und Integration: Dienste und Inhalte bieten Verknüpfingen und Schnittstellen untereinander.
Monomedialität: Eine Veröffentlichung hat festgelegte, beschränkte mediale Kanäle zur Verfügung. Multimedialität: Eine Veröffentlichung kann verschiedenste Kanäle kombinieren.
Klare und individuelle Autorenschaft: Es ist eindeutig, wer hinter welchem Inhalt steht. Kollektive Autorenschaft: Inhalte entstehen aus Teilung, Remixen und Kollaboration.
Das Internet als ein Medium: ein „virtueller Raum“, der neben dem „echten Leben“ existiert. Das Internet als eine Plattform und als ein Lebensraum.

Wenn man einen weiten Begriff von Web 2.0 im Sinne von Plattformen ohne „eigene“ Inhalte zugrundelegt, lassen sich auch die Wikipedia, Google oder ebay dazu zählen. Auch die klassischen „Web 1.0“-Websites haben nachgezogen und bieten Empfehlungs-, Kommentar-, Bewertungs- oder Freundefunktionen, um ein bißchen Social Media auch auf ihre Websites zu bringen.

Das Erfolgsrezept lautet: Websites als Plattformen, die von ihrer community mit Leben gefüllt werden. Dabei geht es nicht nur um das Senden von Inhalten, sondern immer auch um Austausch. Alle Plattformen leben von der Kommunikation der Nutzer untereinander. Im Web 2.0 eröffnen sich neue Möglichkeiten des Teilens und der Zusammenarbeit. Lokal oder über Grenzen hinweg, ad hoc oder kontinuierlich, im privaten, im beruflichen oder politischen Bereich. Teilen und Vernetzung heißen die Schlüsselbegriffe der Web 2.0-Welt.

Individualisierte Teilhabe
Oder: weniger starke, mehr schwache Bindungen

Wir sehen in Deutschland eine zunehmende Unzufriedenheit mit etablierten Strukturen und Prozessen der politischen Institutionen. Die häufig beschworene Politikverdrossenheit erweist sich beim genauerem Hinschauen eher als Unzufriedenheit mit der Repräsentationsfunktion der etablierten Institutionen der Politik, allen voran der Parteien. Auch andere große Institutionen wie Kirchen oder Gewerkschaften verlieren nicht nur Mitglieder, sondern auch Einfluss in ihrer Rolle als gesamtgesellschaftliche Akteure.

Proteste gegen Stuttgart 21 und Castor, Volksbegehren, Studien im Großen und Alltagserfahrungen im Kleinen zeigen aber, dass Menschen gleichzeitig sehr wohl an gesellschaftlichen Fragen interessiert sind. Menschen sind auch bereit, sich in ihren Gemeinden oder im Rahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen zu engagieren. Verdrossenheit an den traditionellen Formen von Politik ist also nicht gleichzusetzen mit Desinteresse an Fragen des Gemeinwohls.

Wir beobachten eine Individualisierung und Fragmentierung des gesellschaftlichen Engagements und politischen Interesses: Man will keine „Meinung im Gesamtpaket“ mehr vertreten (oder wählen). Bürgerinnen und Bürger wollen als mündige, interessierte, mitwirkungswillige und entscheidungsfreudige Individuen wahrgenommen werden.

Das ist ein Trend, den wir in der Internetwelt auch in anderen Kontexten sehen: Nicht mehr das Musikalbum, sondern der einzelne Titel wird als mp3-Datei gekauft. Nicht mehr die ganze Zeitung, sondern der einzelne Artikel wird gelesen. Nicht mehr „das Fernsehen“ oder ein Fernsehsender bindet die Zuschauer, sondern einzelne Sendungen oder Beiträge werden aus einer digitalen Mediathek abgerufen. Nicht mehr die eine Spendenorganisation wird regelmäßig per Lastschrift unterstützt, sondern es wird einmalig und projektbezogen online gespendet. Das Internet begünstigt den Trend zur Individualisierung. Es gibt weniger starke Bindungen und mehr schwache Bindungen.

Die klassischen großen Institutionen (Kirche, Partei, Gewerkschaft) nutzen das Internet bisher vornehmlich für Marketing und Campaigning – mit mittelprächtigem Erfolg. Die für sie grundlegenden Strukturen und Prozesse sind inkompatibel mit denen des Netzes. Während sie sich an Langfristigkeit und umfassender Programmatik orientieren, findet Engagement im Netz häufig ad-hoc und monothematisch statt. Solches Engagement tritt dann eher in Form von Netzwerken, Projekten, Bewegungen, Kampagnen oder ähnlichem auf.

So neu oder ganz anders ist vieles im Internet also gar nicht. In der Netzwelt und in der Offline-Welt spiegeln sich viele Entwicklungen: Gesellschaftliches Engagement und politischer Aktivismus finden zunehmend in Form von anlassbezogenen Netzwerken statt.

Wie sehen Formen von Netzwerk-Partizipation nun konkret aus? Da gibt es große Unterschiede, in der Qualität wie in der Quantität.

Stufe 1
Oder: Der Staat ruft, der Bürger kommt

Beginnen wir bei den einfacheren Formen. Sie ähneln dem „Kommunikation 1.0“-Muster: Der Staat (oder eine andere Institution) ruft, der Bürger (oder ein anderer Angehöriger) kommt. Bleiben wir beim Beispiel des Staats. Bürgerinnen und Bürger können in verschiedenen Rollen um Mitwirkung gebeten werden:

  • Sie sind Fachleute im klassischen Sinne, die ihre Expertise der Politik oder der Verwaltung zur Verfügung stellen. Das kann z.B. bei Online-Konsultationen der Fall sein.
  • Im Rahmen von Meinungsbildungsprozessen können auch allgemein Einwohnerinnen und Einwohner um ihre Einschätzungen zu bestimmten Sachverhalten befragt werden.
  • Davon zu unterscheiden sind Bürgerinnen und Bürger als Betroffene, die z.B. von einem konkreten Planungsvorhaben betroffen sind. In solchen Fällen handelt es sich häufig um formell vorgeschriebene Beteiligungsverfahren.
  • In anderen Fällen bindet die Verwaltung Bürgerinnen und Bürger als lokale Fachleute ein, die z.B. Schlaglöcher, überwachsene Radwege oder Sachbeschädigungen melden, unter Umständen sogar über die Dringlichkeit der Beseitigung eines Übels abstimmen.
  • Im Extremfall können Staat oder Verwaltung sogar Menschenmassen (crowds) in ihre Arbeit einbinden. Im sogenannten Crowdsourcing wird eine große Aufgabe in kleine Arbeitsschritte unterteilt, die dann an eine nicht näher definierte Masse von freiwilligen Mitarbeitern ausgelagert wird.

Die Netzwerk-Formen sind in diesen Fällen eher banal. Sie ähneln einem Stern: Die Kommunikation läuft in der Regel zwischen der Institution im Zentrum und den vereinzelten Akteuren, die rings um das Zentrum herum verteilt sind. Zwar wird dabei zunehmend auch die Kommunikation der Akteure untereinander wichtig, wenn z.B. Bürgerhaushalte gemeinsam diskutiert werden. Dennoch bleibt das Muster deutlich: Es gibt ein Zentrum und es gibt den Rand, es gibt den Initiator und diejenigen, die sich beteiligen dürfen – auf Zuruf.

Stufe 2
Oder: Reden ohne gefragt zu werden

Komplexer wird es, wenn wir uns diejenigen Formen anschauen, bei denen das Engagement „von unten“ ausgeht und nicht von oben initiiert wird. Das Netzwerk ähnelt hier dem Web 2.0: Es gibt nicht ein Zentrum, sondern viele kleine und mittelgroße Knoten mit Verbindungen in verschiedene Richtungen. Jeder ist Empfänger und Sender. Der Einzelne initiiert und engagiert sich, ohne dass man ihn gefragt hätte. (Wieviele Stimmen dann auch Gehör finden, steht auf einem anderen Blatt.)

Mit Facebook und Twitter verändern sich die Rahmenbedingungen für das grundlegende Element des gesellschaftlichen Diskurses: die Meinungsäußerung. Wenn ich früher meinen Unmut über die aktuelle Regierung am Stammtisch äußerte, stimmten mir in der Regel fünf Menschen zu, von denen drei das am nächsten Tag schon vergessen hatten. Wenn ich heute auch nur 140 Zeichen twittere, so erreicht dies potentiell die ganze Welt (zumindest alle, die nach meiner Person oder diesem Thema suchen), und es bleibt in der Regel im Internet auf Dauer dokumentiert. Die Grenzen zwischen privat, halb-öffentlich und öffentlich verschieben sich.

Es geht noch kleiner als 140 Zeichen. Facebook, die meistbesuchte Website der Welt, lässt seit Frühjahr 2010 dritte Websites einen „das gefällt mir“-Button in ihre Angebote einbinden. So kann der Nutzer mit nur einem Klick auf einer beliebigen Website seinem (Facebook-)Netzwerk mitteilen, was ihm wichtig ist – egal ob es um Pop von Madonna oder Positionen von Merkel geht. Umgekehrt erfährt er von Menschen mit gleichen oder verwandten Interessen und Aktivitäten.

Nur wenig aufwändiger wird es, wenn man sich mit seinem Klick und der Angabe seines Namens einer politischen Forderung anschließt. Ein Beispiel sind Petitionen an den Deutschen Bundestag, die seit 2005 auch via Internet eingereicht und mitgezeichnet werden können.

Als zivilgesellschaftliche Plattformen hat sich 2004 campact nach dem US-Vorbild MoveOn gegründet. Die Plattform organisiert „Kampagnen für eine sozial gerechte, ökologisch nachhaltige und friedliche Gesellschaft“ und bündelt im Vorfeld politischer Entscheidungen für gezielte Kampagnen die Positionen einzelner Bürgerinnen und Bürger. Mit nur einem Klick kann man sich hier einer Kampagne anschließen.

Ein ausgefeiltes, aber einfaches System zu einem hochgradig politischen Engagement initiierte Anfang 2010 der Bürgerrechtsverein FoeBuD: Online konnten Nutzerinnen und Nutzer ein Formular ausfüllen, dass dann noch ausgedruckt, unterschrieben und per Post abgeschickt werden musste. Innerhalb weniger Minuten konnte man sich damit einer Verfassungsbeschwerde anschließen, in diesem Fall gegen das ELENA1-Verfahren. 22.005 Beschwerdeführer zogen auf diesem Weg gemeinsam vor das Bundesverfassungsgericht.

Schließlich lässt sich auch noch die Finanzierung solcher Aktivitäten über das Internet organisieren. Sogenannte Micro-Payment- oder Micro-Donation-Systeme ermöglichen es, dass auch bei kleinen Spenden im Bereich von wenigen Euro pro Spender der Verwaltungsaufwand niedrig bleibt. Durch ein solches Crowdfunding kann ein Projekt unabhängig von großen Zuwendungen existieren.

Die Beteiligung über einen Klick mag manchen das Stirnrunzeln ins Gesicht treiben. Ist ein solches Engagement denn nachhaltig? Bleibt die Partizipation nicht an der Oberfläche? Beschäftigen sich die Beteiligten überhaupt ernsthaft mit den Fragen, auf die sie online so schnell eine Antwort geben? Vielleicht führt ein solcher „Wal-Mart des Aktivismus“2 sogar zu einem Rückgang von substanziellerer Beteiligung? Die kritischen Fragen sind berechtigt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit durch Möglichkeiten zum „Instant-Engagement“ insgesamt mehr Menschen gesellschaftliche Partizipation entwickeln oder ob die ohnehin Aktiven für ihr Engagement nur einfachere Formen wählen.

Stufe 3
Oder: Eine Welle machen – mit oder ohne Zentrale

Der Traum jeder Online-Initiative ist es, über das Internet „eine Welle zu machen“, also durch gezielte Aktionen große Aufmerksamkeit auf eine Sache zu lenken. Am besten (und nur selten geplant) funktionieren solche Kampagnen tatsächlich so gut, dass immer mehr Menschen immer mehr weitere Menschen auf einen Sachverhalt hinweisen. Ein Beispiel bildet der Fall Greenpeace gegen Nestlé in 2010 in Sachen Regenwaldzerstörung. Ausgelöst durch ein kritisches Video von Greenpeace und stimuliert durch die Gegenmaßnahmen von Nestlé rollte eine derartig heftige Welle der Kritik durch das Netz, dass Nestlé schließlich den Forderungen von Greenpeace nachgab.

Sein größtes Potential zeigte das Internet bisher, wenn es verstreute Akteure miteinander zu einem schlagkräftigen Netzwerk verbinden konnte, ohne dass es dabei eine „Zentrale“ geben würde. Für das meiste Aufsehen sorgte im deutschsprachigen Bereich bisher die Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz, das den Zugang zu kinderpornographischen Inhalten erschweren sollte. Im Internet formierte sich dagegen eine Widerstandbewegung, die die Maßnahmen als unwirksam kritisiert und in der zu etablierenden Infrastruktur ein Instrument zur allgemeinen Zensur sieht. Diese Bewegung wuchs schnell, ohne dass sie über eine koordinierende Zentrale verfügte. Vielmehr etablierte sich ein diffuses, aber schlagkräftiges Netzwerk alleine dadurch, dass die Einzelakteure ein gemeinsames Schlagwort in allen ihren Veröffentlichungen verwendeten: Zensursula.

Sowohl einzelne Personen als auch lose Zusammenschlüsse als auch bestehende Institutionen arbeiteten nebeneinander und miteinander an einem kollaborativen Lobbying gegen den Gesetzentwurf. Anschaulich wird dies, wenn man sich die Sitzung eines einschlägigen Ausschusses des Bundestags anschaut. Über Bundestags-TV im Internet verfolgten Zehntausende eine Anhörung, tauschten sich parallel via Twitter darüber aus, prüften „live“ die vorgebrachten Argumente, trugen Quellen, Belege und Gegenargumente zusammen. Bereits wenige Minuten nach Ende der Sitzung war ein vollständiges Transkript mittels eines Wikis erstellt worden.

Und die Bildungswelt?
Oder: Netzfremd im Netz

Die auffälligsten der Beispiele für Netzwerk-Aktivismus kommen (noch) aus dem Bereich „Netzpolitik“. Aber auch bei reinen Internetthemen wird immer wieder deutlich, dass sich die Öffentlichkeit nicht auf das Internet beschränkt, sondern früher oder später in die materielle Welt überspringt. Demonstrationen und Treffen, Flyer und Argumentationshilfen, Gründungen von Arbeitskreisen, Vereinen und sogar Parteien bleiben wichtig und wirksam.

Umgekehrt lassen sich inzwischen zahlreiche „netzfremde“ Bewegungen aufzählen, die Ihr Engagement maßgeblich als Netzwerk online koordinieren: die Unterstützung von Joachim Gauck bei der Wahl des Bundespräsidenten, die Tea-Party-Bewegung in den USA, die Proteste gegen Stuttgart 21 oder den Castortransport.

Auch für den Bildungsbereich wird die bisher eher schmale Bewegung derjenigen Akteure breiter, die sich als Netzwerk online organisieren. Die fortgeschrittene „Szene“ formiert sich abseits der etablierten Institutionen aus vernetzten Einzelkämpfern: Wissenschaftler, Lehrer, Studenten, Entrepreneure, Personaler und Menschen ohne eindeutige Berufsbezeichnung sind meisten in ihrem Arbeitsbereich isoliert und suchen die Vernetzung über das Internet. Dazu kommen Treffen auf sogenannten Educamps im Format von Barcamps.3 Zusätzlich gibt es einzelne Veranstaltung(sreih)en wie z.B. 2010 die re:learn als Sub-Konferenz zur großen Netzwelt-Konferenz re:publica, 2009 das Treffen Die Bildung hacken oder seit 2010 der Bildungsbrunch.4

Die meisten Teilnehmenden dieser Veranstaltungen kommen eher aus der Netzwelt. Eher vereinzelt trifft diese Szene auf „normale Pädagogen“ außerhalb der Netzwelt. Erste Versuche5 zeigen aber: Sie vertragen sich und haben sich viel zu sagen.

Was bleibt für die Bildung?
Oder: Was kommt?

Vergleicht man die konstitutiven Strukturen und Grundannahmen der modernen Bildungswelt und der Netzwelt, findet man hohe Übereinstimmungen: Selbstbestimmung und Individualisierung, Selbstständigkeit und Aktivierung, Flexibilisierung von Zeit und Raum, Vernetzung und Austausch, Kollaboration und Co-Konstruktion von Wissen, Praxis- und Projektorientierung, das alles sind Schlagworte, Werte und Ziele in beiden Bereichen. (Nebenbei: Sie entsprechen in vielerlei Hinsicht neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen.)

Vielleicht sind es die Unübersichtlichkeiten, Unwägbarkeiten, Untiefen und Unvertrautheit, die die Bildungswelt so verhalten gegenüber der Netzwelt auftreten lassen. Bei aller Vorsicht müssen sich die Akteure aus der Bildungswelt aber bewußt sein: Der Wandel findet statt. Diskussionen, Lernen, Vernetzung finden auch auf Facebook statt – ob mit oder ohne die Institutionen der Bildungswelt.

Welche Auswirkungen die skizzierten Entwicklungen auf die Institutionen der Erwachsenenbildung haben, skizzierte kürzlich Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung: „Wir dürfen die Chancen des Web 2.0 nicht vergeben. ‚Mehr Kontrollverlust wagen!‘ könnte eine Maxime für die politische Bildung sein, die Partizipation auch für ihre eigene Arbeit ernst nimmt.“6

  1. elektronisches Entgeltnachweis-Verfahren
  2. Micah White: Vergesst die Klicktivisten! In: der Freitag am 15.08.2010 | http://www.freitag.de/politik/1032-vergesst-die-klicktivisten
  3. Barcamps sind Netzwelt-typische Unkonferenzen, dem OpenSpace-Konzept ähnlich: Es gibt kein / wenig zentral geplantes Programm und stattdessen die Möglichkeit, dass jeder Teilnehmende auch selber etwas vor- und beiträgt.
  4. Links finden sich unter http://www.joeran.de/leitmedienwechsel
  5. z.B. Regionaltreffen des Netzwerks „Archiv der Zukunft“ im Barcamp-Format oder Unkonferenz der Initiative „Eine Schule für alle“
  6. Thomas Krüger: Politische Bildung 2.0 – Neue gesellschaftliche Beteiligungsformen durch neue Medien – Herausforderungen für die Institutionen. Keynote zur Tagung „Mitmachen ohne dabei zu sein“ der Landeszentrale Sachsen, gehalten am 10.09.2010, abrufbar unter http://www.bpb.de/presse/NYZ86W.html

3 Gedanken zu „Das Ende der Institutionen wie wir sie kannten …“

  1. Ich bereite gerade eine Präsentation vor gewerkschaftlichen Bildungsträgern in NRW vor. Dabei hat mir der Artikel sehr weitergeholfen.

  2. Gute Ideen! Besonders einen Abschnitt (und vor allem den letzten Satz darin) werde ich mir merken – den werde ich sicher noch in vielen Diskussionen brauchen können:

    „Vergleicht man die konstitutiven Strukturen und Grundannahmen der modernen Bildungswelt und der Netzwelt, findet man hohe Übereinstimmungen: Selbstbestimmung und Individualisierung, Selbstständigkeit und Aktivierung, Flexibilisierung von Zeit und Raum, Vernetzung und Austausch, Kollaboration und Co-Konstruktion von Wissen, Praxis- und Projektorientierung, das alles sind Schlagworte, Werte und Ziele in beiden Bereichen. (Nebenbei: Sie entsprechen in vielerlei Hinsicht neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Anforderungen.)“

  3. Pingback: Was ist Web 2.0? : Web 2.0 in der Bildung

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